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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle
Autoren: Claudie Gallay
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sein?«
    Sie wühlte in ihren Taschen und holte eine Handvoll kleiner gelber Münzen hervor, die sie mir zeigte. Dann legte sie sie vor Lilis Nase auf den Tresen. Lili sagte etwas zu ihr, und die Bachstelze nickte.
    Man erzählte sich, der Abdruck auf ihrem Mund stamme von einem Goublin , der sie berührt und damit fürs Leben gezeichnet
hatte, als sie erst ein paar Tage alt gewesen war. Man sagt, derjenige, dem die Bachstelze ihr Mal verdanke, sei eines Nachts aus dem Felsen von Câtet gekommen und habe die Abwesenheit ihrer Mutter ausgenutzt, um die Kleine in ihrer Wiege zu zeichnen.
    Kinder mit einem solchen Mal sind hässlich, aber sie werden von Feen geschützt.
    Ich sah mich um. Lambert rauchte und hörte zu, was die Männer erzählten. Er sprach mit niemandem, und niemand schien auf ihn zu achten. Außer Lili. Mehrmals ertappte ich sie dabei, dass sie ihn ansah. Ein Blick, der hängenblieb.
    Hier kannten sich alle.
    Sie sah Lambert nicht wie einen Fremden an.
    Die Bachstelze kam wieder zu mir, sie schob sich zwischen Stuhl und Wand, machte ihre Hand auf und zeigte mir, was sie gekauft hatte – eine Zuckerstange, runde Bonbons und drei kleine Toffees in durchsichtigem Papier.
     
    Es war fast Mitternacht, als die Männer einer nach dem anderen das Lokal verließen, mit langsamen Schritten verteilten sie sich im Dorf.
    Der Vater der Bachstelze war einer der Letzten, der heimging. Seine Sohlen klangen schwer. Ich traf ihn unterwegs. Er führte ein Pferd am Zügel, ein riesiges Tier mit kräftigem Nacken, dick wie ein Ochse. Die Hufeisen schlurften über die Straße.
    Die Stiefel des Vaters.
    Der Hund, der ihm folgte.
    Und noch dahinter die Kleine, mit einer Hand an den Wagen geklammert. Die Augen fast geschlossen. Schwankend. An den Füßen Wanderschuhe, deren zu kurze Schnürsenkel nicht durch alle Löcher gingen.
    Auch Lambert verschwand, allein in seinem Auto. Er fuhr in Richtung Omonville.

    Ich ging zur Griffue hinunter. Unterwegs traf ich einen Mann, der einen Karren vor sich herschob, dann ein Auto mit dem Kofferraum voller Bretter.
    Die alte Nan war nicht mehr da.
    Ich lief am Hafen entlang, sah das Blech, das zwischen den Booten auf dem Wasser schwamm. Ein gelbes Lichtquadrat leuchtete am Hügel, das war das Fenster der Küche, in der Théo lebte.

I n Raphaëls Atelier brannte noch Licht. Ich musste nur die Tür öffnen. Er saß am Tisch, mit dem Rücken am Ofen. Fünf Gipsköpfe hingen direkt hinter ihm, mit großen Hanfseilen an den Balken gebunden.
    »Du bist noch wach?«
    Er drehte sich um und sah mich an, seine Augen waren gerötet vor Müdigkeit. Der Fußboden war übersät mit Abfällen, Gipsstücken, die er zertreten hatte, es sah aus wie Kreide.
    Er zeigte mir die Skulptur, an der er gerade arbeitete. Eine entblößte Frau mit magerem Oberkörper, verletzlicher noch durch den kargen Lumpen, mit dem Raphaël ihre Schultern bedeckt hatte.
    »Das ist erst ein Entwurf«, sagte er, als wollte er sich dafür entschuldigen, ihn gemacht zu haben.
    Das Licht verlieh dem Ganzen eine Totenblässe. Ich wandte den Blick ab. Überall auf den Tischen lagen Fragmente von Händen, von Köpfen. Gesichter mit weit aufgerissenen Mün-dern und Hände mit gestreckten Fingern.
    »Willst du Kaffee?«, fragte er.
    Ich schüttelte den Kopf.
    Er scherte sich nicht um den Sturm und das Leben da draußen. Für ihn zählte nur seine Arbeit.

    »Was war heute los?«, fragte er trotzdem.
    »Nichts … Die Polizei ist gekommen. Max hat Bretter aus dem Wasser gefischt. Die alte Nan war da.«
    Ich erzählte ihm, dass sich ein Mann am Hafen herumtrieb und dass Nan in ihm einen der Ihren wiederzuerkennen meinte.
    Es war ihm egal.
    »Es gibt viele Männer, die hier rumlaufen. Das Meer will es so.«
    »Was machst du mit diesen ganzen Blättern?«, fragte ich.
    »Es sind Zeichnungen …«
    »Für Hermann?«
    »Ja.«
    Er rieb sich die Augen.
    »Er will sie bis zum Monatsende. Eine Serie in Schwarz-Weiß. Das schaffe ich nie.«
    Er trank seinen Kaffee im Stehen und ging rauchend um seine Skulptur herum.
    Die Nacht war noch nicht zu Ende. Er würde bestimmt weiterarbeiten.
    »Ich gehe ins Bett«, sagte ich und sah ihn an.
    »Das solltest du machen, ja. Schlaf für mich mit, Prinzessin …«
    Er lächelte mir zu.
    »Kannst du das?«
    Für zwei schlafen, das konnte ich. Lange hatte ich für dich geschlafen. Für deine schlaflosen Nächte, deine langen Nächte voller Schmerzen.
    Ich ging in mein Zimmer. Mir war kalt. Ich war zu lange
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