Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Bluterbin (German Edition)

Die Bluterbin (German Edition)

Titel: Die Bluterbin (German Edition)
Autoren: Hildegard Burri-Bayer
Vom Netzwerk:
behauptet hatte? Als sie der alten Frau in der Kathedrale in das schmerzverzerrte Gesicht gesehen hatte, war es zu spät gewesen, um so zu tun, als ob sie nichts gesehen hätte. Sie hätte es auch nicht übers Herz gebracht. Es wäre nicht richtig gewesen.
    Dennoch erfüllte Marie tiefe Scham, weil sie ihrer Familie so viel Sorgen bereitete. Die Ablehnung ihrer Eltern und Schwestern empfand sie deshalb als gerechte Strafe. Sie gab sich die größte Mühe, es allen recht zu machen, und hoffte verzweifelt, dass ihre Familie ihr irgendwann verzeihen und ihr die Liebe entgegenbringen würde, nach der sie sich mehr als alles andere sehnte. Aber sie durfte sich nicht so treiben lassen, sondern musste sich zusammennehmen.
    Ohne weiter auf den Gestank zu achten, der durch die feuchte Schwüle noch verstärkt wurde, wandte sich Marie nun wieder den bunt gekleideten Menschen zu, die durch die Gasse eilten. Mitten im Gewühl entdeckte sie auch einen grauen Schecken, der einen breiten, mit Zunder beladenen Wagen zog und dabei die genüsslich vor ihm im Schlamm suhlenden Schweine aufschreckte.
    Das Fell des kräftigen Pferdes glänzte vor Schweiß, als es gehorsam die Befehle seines Herrn befolgte, doch dann steckte es fest.
    Direkt vor dem Wagen war eine Bande halbwüchsiger Gassenjungen gerade damit beschäftigt, mit Holzstecken in der Hand eine neue Rangordnung unter sich auszukämpfen, und unternahm daher keinerlei Anstalten, zur Seite zu treten, um das Fuhrwerk vorbeizulassen.
    „Gebt endlich den Weg frei, ihr nutzlosen Kakerlaken“, schimpfte der Zunderhändler.
    In seinem mehrfach gestreiften Überrock war er eine imposante Erscheinung, zumal er seine Worte auch noch unterstrich, indem er drohend die lange Peitsche hob.
    Die Jungen bedachten ihn ihrerseits mit unflätigen Worten, gaben dann aber endlich nach und drückten sich eng an die Häuserwände, um den Wagen passieren zu lassen.
    Plötzlich blitzte ein Feuerstrahl in der Hand eines der Jungen auf. Mit geübtem Griff entzündete er ein kleines Stück Zunder, das er aus seinem Beutel gezogen hatte, an einem Feuerstein, rannte hinter dem Zunderhändler her und warf den glimmenden Zunder auf den Wagen. Danach lief er, gefolgt von seinen Freunden, blitzschnell davon, um das weitere Geschehen aus sicherer Ferne zu verfolgen.
    Voller Entsetzen konnte Marie beobachten, wie der Zunder Feuer fing und die Flammen sich in rasendem Tempo auf dem Wagen ausbreiteten.
    Der Händler hob schnuppernd den Kopf und wandte sich, beunruhigt über den Brandgeruch, nach hinten. Die Ware auf dem Wagen stellte seinen gesamten Besitz da. Wenn er sie verlor, würden er und seine Familie den Winter über hungern müssen.
    Als er sah, dass der Zunder auf dem Wagen brannte, kam Bewegung in seine behäbige Gestalt. Er sprang vom Kutschbock und begann verzweifelt und auf allen vieren die Zunderlappen, die bereits Feuer gefangen hatten, aus dem Wagen zu werfen. Dabei achtete er weder auf sein Pferd, das, beunruhigt durch den Brandgeruch, mit den schweren Hufen scharrte, noch auf seine Hände, an denen sich die ersten Brandblasen zeigten. Die Wut auf die verdammten Gassenjungen ließ ihn seine Schmerzen vergessen. Wie eine Wanze würde er jeden Einzelnen von ihnen zerquetschen, wenn er ihn zwischen die Finger bekäme. Doch dazu blieb keine Zeit mehr. Er musste jetzt handeln.
    Laut fluchend versuchte er zu retten, was noch zu retten war. Monatelang hatte er mit seinen Söhnen nach den begehrten Schwämmen gesucht und sie mühsam von den Bäumen geschnitten. Während seine Frau den minderwertigen gemeinen Feuerschwamm und den rotrandigen Baumschwamm zu Kappen, Hausschuhen und Trinkbechern weiterverarbeitete, hatte er die Zündwilligkeit der aus den Baumschwämmen gewonnenen Zunderlappen durch Einlegen in Urin und Holzaschenlauge verbessert, sie mit Holzschlägeln breit geklopft und anschließend zum Verkauf in gleich große Stücke geschnitten. Besondere Sorgfalt hatte er den höherwertigen Baumschwämmen zukommen lassen, die wegen ihrer blutstillenden Wirkung bei der Wundbehandlung unersetzlich waren. Mit der Arbeit eines halben Jahres auf dem Wagen hatte er schließlich den weiten Weg in die Stadt angetreten. Die Städter waren auf seinen Zunder angewiesen, da die Wälder in der näheren Umgebung längst abgeholzt und mit ihnen zusammen auch die Baumschwämme verschwunden waren.
    Der Holzverbrauch der Städter war so hoch wie nie zuvor. Allein für den Bau einer einzigen der unzähligen Kirchen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher