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Die Bluterbin (German Edition)

Die Bluterbin (German Edition)

Titel: Die Bluterbin (German Edition)
Autoren: Hildegard Burri-Bayer
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    Nachdem das letzte Gerüst entfernt worden war, konnte niemand mehr sagen, wie viele Jahre es insgesamt gedauert hatte, um die Kathedrale größer und mächtiger in die Höhe wachsen zu lassen als jedes andere Bauwerk in der Provinz Berry.
    Bischof Henri de Sully, der zu Ehren des Allmächtigen mit dem gewaltigen Bau begonnen hatte, war schon vor geraumer Zeit in dessen Reich eingegangen und genauso aus dem Gedächtnis der Lebenden verschwunden wie der Schweiß und das Blut mehrerer Generationen von Baumeistern, Handwerkern und Arbeitern, deren Leben allein durch den Bau der Kathedrale bestimmt worden war.
    Das fünfschiffige, lichtdurchflutete Bauwerk mit seinen unzähligen Pfeilern und Bögen war schlichtweg überwältigend und erschien den Menschen wie ein Wunder, und so kamen jeden Tag mehr Besucher, um es zu bestaunen und zu begaffen. Mochten sie sich im ersten Augenblick im Schatten dieses machtvollen Bauwerkes auch armselig und klein fühlen, letztendlich überwog in ihnen doch stets das triumphale Gefühl, die Schwerkraft überlistet zu haben. Die unermesslichen Waldgebiete, die dem Bau zum Opfer gefallen waren, zählten nicht mehr und auch nicht die vielen menschlichen Dramen, die sich in den vergangenen Jahren rund um die Baustelle herum abgespielt hatten.
    Obwohl es noch früh am Morgen war, hatte sich bereits eine lange Schlange gottesfürchtiger Menschen vor dem Westflügel gebildet, die geduldig darauf wartete, eingelassen zu werden, um auch das Innere dieses Wunders bestaunen zu können.
    Die vierzehnjährige Marie, Tochter eines ehrgeizigen Tuchhändlers, hatte an diesem Morgen von ihrer Mutter den Auftrag erhalten, der Bäckerswitwe die übrig gebliebenen Reste einiger Stoffballen zu bringen, aus der sie Kleider für ihre neun Kinder nähen konnte.
    Die Menschen, die ihr unterwegs begegneten, starrten Marie, deren ungewöhnlich helle, fast schon weiße Haut an jungfräulichen Neuschnee erinnerte, neugierig an. Ihr lockiges, dunkelbraunes Haar fiel ihr offen bis auf die schmale Taille herab und wurde nur am Kopf durch einen schmalen bronzenen Reif gebändigt. Das Auffälligste an Marie waren jedoch nicht ihre feinen ebenmäßigen Gesichtszüge, sondern ihre Augen, die so ungewöhnlich dunkel und dabei von solch außergewöhnlichem Glanz waren, dass sie dem Betrachter bis tief in die Seele zu blicken schienen. Nicht wenige, die ihr begegneten, drehten sich nach ihr um und sahen dem schlanken hochgewachsenen Mädchen hinterher, das in ihrem blauen Kleid mit den weiten Ärmeln und dem langen Mantel aus feinstem flandrischen Tuch, der von einer kupfernen Fibel zusammengehalten wurde, wie ein Engel wirkte.
    Schüchtern nahm sie die Dankbarkeit der verhärmt aussehenden Frau entgegen, die ihr und ihrer Mutter Gottes Segen wünschte. Auf dem Rückweg konnte sie nicht widerstehen, den kleinen Umweg an der Kathedrale vorbei zu nehmen.
    Das erhabene Bauwerk war Maries Freund, seitdem sie denken konnte. Innerhalb seiner breiten Mauern fühlte sie sich sicher und geborgen und glaubte Gott näher zu sein. Hier hing sie ihren kindlichen Träumen nach und wagte es leise flüsternd, den stummen, mit Gold bemalten Heiligenfiguren ihre Ängste und Hoffnungen anzuvertrauen.
    In stiller Erwartung lief sie durch das Goldene Tor und betrat die „Heilige Stadt“, die sich weit über die Häuser der Handwerker und Kaufleute erhob.
    Sie war eine Stadt in der Stadt, in der die hohen Kirchenherren, umgeben von einem Heer aus Mönchen, Dienern, Knechten und Mägden, nahezu ungestört für sich lebten.
    Die „Heilige Stadt“ besaß ihre eigenen Kornspeicher und Ställe, gut gefüllte Weinkeller, Kräuter-, Obst- und Gemüsegärten und natürlich die Zehntscheune, in der jeder Bürger einmal im Jahr seine Abgaben an den Klerus entrichtete. Zwischen der Zehntscheune und den unscheinbaren Holzhäusern der Dienerschaft lagen wiederum Badeund Krankenstuben, und sie alle wurden vom Glanz des Bischofspalastes überstrahlt.
    Marie hatte das Ende der Menschenschlange bei der Kathedrale schon beinahe erreicht, als plötzlich zwei halb verhungerte Straßenköter knurrend und zähnefletschend auf sie zugejagt kamen. Erst kurz vor ihr stoben sie auseinander, um sich direkt hinter ihr wieder aufeinanderzustürzen. Der kleinere der beiden hielt eine laut fiepende, aus mehreren Wunden blutende, fette Ratte im Maul und versuchte sie mit allen Mitteln gegen seinen größeren Rivalen zu verteidigen.
    Maries Herz zog sich vor lauter Schreck
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