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Die Betrogenen

Die Betrogenen

Titel: Die Betrogenen
Autoren: Michael Maar
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Jacketts und entnahm ihr einen sorgfältig gefalteten Zeitungsartikel.
    Was wurde den Menschen einst verheißen, was hatteMoses seinem Volk prophezeit? Ein Land, in dem Milch und Honig floß.
    Bittner legte den Artikel auf den Bistrotisch und strich ihn glatt.
    Aber das war falsch. Es war anders gekommen. Milch und Honig? Ja, Milch und Honig waren durchaus im Spiel.
    Hier stand es, der Artikel war von der letzten Woche. Orientalisten hatten auf Tontafeln eine bislang unbekannte Hinrichtungsart der Perser entschlüsselt. Die zum Tode Verurteilten wurden in einen Trog gesteckt, aus dem nur noch ihr Kopf herausragte. Und jetzt flossen Milch und Honig; denn damit strich man sie ein. Den Rest besorgten die dadurch angezogenen Würmchen und Fliegen.
    Bittner goß etwas Wasser in sein Whiskyglas nach.
    Konnte man sich das aber genau vorstellen, wobei die Wirklichkeit alle Vorstellung übertreffen mußte, und danach noch ruhig weiterleben? Er meinte:
genau
vorstellen? Wie es zuerst nur überall juckte und kribbelte und man sich nicht kratzen konnte? Wie die Fliegen ihre Eier in alle Mulden ablegten, wie das Gewürm in die Ohrmuscheln und Nasenlöcher kroch und sich allmählich in die Augäpfel fraß? Wie der unschuldig wimmelnde Pelz anwuchs und schließlich – aber Bitter brach ab; seine Augen blitzten. Seine Adlerphysiognomie, fand Karl, trat mit den Jahren immer stärker hervor.
    Wer sich vorm Ausmalen dieser Polyphonie der Qualen nicht drücke und dann die Menschheit oder den Schöpfer nicht verfluche, der sei selber verflucht.
    Bittner starrte in die Ferne. Er wirkte, als säße er selbst im Trog und wartete auf die ersten Fliegen. Nach einem weiteren Schluck sagte er:
    «Man hatte die Verurteilten gefüttert. Sie verwesten bei lebendigem Leib. Zweieinhalb Wochen hat es sich hinziehen können, bis der Tod endlich eintrat. Der dann allerdings dem Paradies gleichgekommen sein muß.»
    Arthur Bittner erhob sich, gab dem Marokkaner seine Zimmernummer, damit er für ihn bonieren konnte, entschuldigte sich für seinen Monolog und verschwand im wachsgelben Licht des Fahrstuhls, dessen Tür sich langsam und leicht ruckelnd hinter ihm schloß.
    Sie hatte ihm gleich geöffnet, sie war schon abgeschminkt, und dann war es zu seiner, womöglich auch ihrer Überraschung passiert.
    Wie empfänglich die reifere Weiblichkeit war! Und wie prall unter dem roten Seidenstoff, der sich
Charmeuse
nannte, wie Karl dem Etikett entnahm. Er war über sich selbst erstaunt. Bei Carmen war er immer gehemmter gewesen, vielleicht wegen des sanften Zeugungsdrucks. Er mußte an den Glatzkopf daheim denken, der ihm jeden Abend ab elf den Nachtschlaf verdarb – wenn der jetztausnahmsweise einen Stock unter ihm läge, hätte Karl seine Rache gehabt; süß wie die ganze Stunde, die er bei ihr blieb, bis er sich nach einem Schlenker zur Rezeption zurück in sein Zimmer schlich. Das Türkärtchen hatte ihm die junge Asiatin ersetzt, mit der er im Übermut auch noch schäkerte.
    Für die literarische Matinée am nächsten Tag hatte man einen Barocksaal angemietet, der sich bis auf den letzten Platz gefüllt hatte. Manteuffel war schon mit Woytek abgereist, offenbar hatte er ihm aus der Schatulle seines Preisgeldes ein Hotelzimmer spendiert, im Wagen würde er ihn wohl nicht übernachtet haben lassen.
    Karl setzte sich in die zweite Reihe neben die Wiedenkopf, die in dunkles Grün gehüllt war und ihm hin und wieder einen tiefen Blick zuwarf. Das Summen und Wispern in dem mit hohen Spiegeln gegen seine natürliche Düsternis kämpfenden Saal verstummte, als Bittner, der aufrecht hinter einem Tischchen saß, den Kopf hob und sich räusperte. Mikrophon brauchte er keines, seine Stimme trug. Noch eine kleine Kunstpause, und er begann.
    Schon nach kurzer Zeit hätte man nicht nur eine Stecknadel fallen hören, sondern auch die auf ihrer Spitze versammelte Engelschar, wie sie flüsternd über ihre Leugner beriet. Bittner verwandelte sich, wenn er las, oder bliebderselbe, aber warf wie Lumpen, in die er gehüllt war, alles Äußere ab. Wie er modulierte, wann er die dunkle, fast heisere Stimme senken und wann sie für einen Moment anheben würde, war nie vorherzusehen, aber immer zwingend. Seine Gestik war sparsam, fast geizig und gewann dadurch einen neuen revoltierenden Sinn. Gäbe man ihm fünf Brote und zwei Fische, dachte Karl, er teilte sie aus, und niemand hätte gedarbt. Das war die Kunst, die alle Kunst abgeschüttelt hatte und wie ein Laubbaum im Herbst
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