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Die Betrogenen

Die Betrogenen

Titel: Die Betrogenen
Autoren: Michael Maar
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ein ragendes Gerippe enthüllte, kahl, vernarbt und für den Winter bereit. Doch, so konnte man es sagen, und genau so sollte Karl es denn auch bald aus traurigem Anlaß formulieren.
    Nach der Kalendergeschichte vom Unverhofften Wiedersehen las Bittner das Schlußkapitel aus den
Masken des Todes
. Das Tempo ging unmerklich von Andante zu Adagietto über, die Phrasierung wurde rauher, auf eine Passage in gläsernem piano folgte ein überraschendes forte. Als er zum Finale kam, wischte sich die Wiedenkopf, die Karls Hand gehalten hatte, die Augen. Aus den hinteren Reihen hörte Karl nicht nur der Heiserkeit geschuldetes multiples Räuspern.
    Dann war es zu Ende, und das Sonderbarste geschah. Niemand wagte zu applaudieren. Als wären sie in einer Kapelle, scheuten die Zuhörer sich, die Stille zu brechen, die sich nach Bittners letztem Satz zu verstofflichen undlangsam in den Saal zu senken schien. Je länger sich keine Hand rührte, desto mächtiger wurde der Bann.
    Bittner legte das Manuskript nieder und blickte ausdruckslos. Er saß aufrecht und hielt den Kopf leicht zur Seite geneigt. Die Stille hatte den Saal vollständig gefüllt.

Epilog

    K arl schaute sich noch einmal suchend um; Nora war nirgends zu sehen. Die halbe Grabbe-Gesellschaft hatte sich eingefunden, Karl nickte seinen alten Bekannten zu. Da hinten stand Seyfried, ohnehin immer in Schwarz, mit Cornelius und der Wiedenkopf, die trotz eines Migräneanfalls gekommen war, in gedämpftem Gespräch. Sogar der Lektor war da, der vor Bittners
Così fan tutte-
Buch gefeuert worden war und wohl nie erfahren hatte, wie der ihm den einen Judas-Apostroph nachtrug. Auch das Ehepaar Hagen war erschienen. Und dort ganz hinten am Rand, konnte das Woytek sein? Was hatte denn der hier zu suchen? Für den Anlaß hatte er sich in einen zu großen dunklen Anzug gesteckt.
    Karl fand es unverständlich, daß sie nicht angereist war. Sogar in den Traueranzeigen hatte ihr Name gefehlt; da waren neben den vielen Kollegen und Vertrauten diverse Bittners aufgeführt, eine Renate, eine Waltraut und eine Beatrice, aber keine Nora.
    Als Stellvertreterin hatte sie offenbar ihre Galeristenfreundin geschickt, Karl erkannte sie wieder, auch wenn ihr Haar ihm dunkler in Erinnerung war – jetzt schimmertees hennafarben. Sie saß in der ersten Reihe und schien Karl schon übertrieben affiziert, die meiste Zeit hielt sie ein Taschentuch vor den Mund.
    Nicht, daß ihm das Herz nicht selbst schwer gewesen wäre. Er hatte Bittner seit der Matinée nicht mehr gesehen, und in die Trauer mischte sich Selbstvorwurf. Er war frappiert von dem Gefühl der Verlorenund Verlassenheit, das in ihm, als er die Nachricht erfuhr, hochgestiegen war und ihn überflutet hatte wie seit dem Tod der Mutter nicht mehr. Und ganz unten in diesem schwarzen Meer eine dünne Schliere Erleichterung, wie Karl sich mit Scham eingestand.
    Aber was sollte nun Woytek hier? Hatte er wieder jemanden chauffiert? Manteuffel jedenfalls nicht, der war natürlich nicht erschienen. Immerhin hatte die alte Liebe am Ende doch noch die Überhand gewonnen, und als die Uhr schon fast abgelaufen war und schon die letzten Sandkörner durch die Enge rieselten, hatte er sich mit Bittner versöhnt – brieflich, wie Karl gehört hatte; die Gelegenheit, es mit einem festen Händedruck zu tun, hatte er nach seinem Preis ja versäumt. Da war er wieder Turandot gefolgt, deren letzter erlösender Kuß durch des Maestros Tod ja auch nicht mehr auskomponiert worden war. Dennoch, sein Nachruf war, gerade in seiner scheinbaren Kühle, um Klassen besser als der Karls, wie er sich nicht verhehlte.
    Die Trauergemeinde war ins Freie getreten. Am Himmel zeichneten sich die Rippenbögen von Cirruswolken wie blasse Röntgenbilder ab. Der Tag war sonnig und kühl. Ein Bussard kreiste über ihnen und schraubte sich dann überraschend schnell ins Azurblau hinauf. Ob Bittner dieses sanft schwebende Sich-hoch-Schrauben zu seiner Zufriedenheit hätte beschreiben können?
    Er erinnerte sich an den Abschied, als sei es gestern gewesen. Nach Bittners Lesung und dem anschließenden kleinen Empfang – irgendwann hatte dann doch ein Stuhl geknarrt und der erste Mutige oder Stumpfe sich erhoben, und langsam, als wüßten sie nicht recht, wie ihnen geschehen sei, waren die Zuhörer aus dem Saal geströmt – hatte Karl sein Zimmerkärtchen abgegeben und die Rechnung der Hotelbar beglichen. Vor dem Metropol hatte Bittner im Gespräch mit einer greisen Dichterin gestanden,
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