Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Augenblicke des Herrn Faustini - Roman

Die Augenblicke des Herrn Faustini - Roman

Titel: Die Augenblicke des Herrn Faustini - Roman
Autoren: Haymon
Vom Netzwerk:
einer anderen Zeit. Herr Faustini konzentrierte sich beim Aufsperren seiner Zimmertüre darauf, den richtigen Schlüssel vom falschen, der zum Haustor passte, zu unterscheiden. Er horchte in sich hinein, horchte auf die Stimme, die ihm sagte: Das ist eindeutig der passende Schlüssel! Meistens irrte die innere Stimme. Herr Faustini war weit davon entfernt, darin ein Omen für den ganzen Tag zu sehen. Dass seine innere Stimme den falschen Schlüssel wählte, zeigte nur, dass den Schlüsselvisionen nicht zu trauen war. Dennoch hielt er daran fest, versuchte den richtigen Schlüssel durch ein geheimes Zeichen zu erkennen – denn äußerlich waren sich die beiden ähnlich wie ein Ei dem anderen –, und seine Stirn hellte sich merklich auf, als er auf Anhieb den richtigen Schlüssel ins Schloss einführte.

12
    Ein müdes Pferd zog einen Planwagen die Klosterstraße hinauf, vorbei an Herrn Faustini. Unter der Plane saß eine fröhliche Touristengruppe auf dem Weg von einer Woiprob zur nächsten. Die Klosterstraße führte an einer Phalanx von Schenken entlang hinein in die Weinberge. Wein, so weit das Auge sah. Das aus dem Grün schimmernde Blau der Reben. An den Rändern der Rebzeilen wuchsen dicht an dicht Brombeersträucher, die Beeren überreif. Hagebutten leuchteten orange-rot. Ein Holunder ließ seine schweren Äste hängen. An einem Feldweg stand eine Trauerweide im frühen Abendlicht. Die Luft war leicht und weich. Mehr und mehr Stare landeten in der Krone der Trauerweide. Eine Wildtaube gurrte in der Ferne. Da und dort hob eine müde Grille an. Eine Kirchturmglocke schlug übers Feld. Das Rot der Hagebutten leuchtete wie Feuer im Dornbusch. Herrn Faustini war, als hörte er das hundertfache Flügelschlagen der Stare als Knistern. Die Erde ringsum atmete, so wie jedes Insekt, jedes Kriechtier, das sich im Gebüsch verbergen mochte, atmete. Vom Wehen des Windes changierten die Blätter der Trauerweide vom dunkleren Grün ins Hellgrau. Die Welt ringsum war zur Ruhe gekommen, die Silhouetten der Lastwagen auf der Autobahn am Horizont zogen lautlos dahin. Die beiden Türme des Atomkraftwerks Philippsburg in der Rheinebene schimmerten weithin in einem Sonnenlichtkegel, als kündeten sie eine Verheißung. Das alles gehörte zur Welt von draußen, die in Sichtweite lag und doch nicht bis hierher in die Weinberge drang. Hier atmete die Erde ihren eigenen Hauch. Zwischen den Rebstöcken bewahrten einzelne Wärmezonen noch Reste vom vergangenen Sommer, sie öffneten sich, als Herr Faustini sie durchschritt. Er schloss die Augen und glaubte zu spüren, wie sich die Erde in einem sanften Atem unter ihm hob und senkte. Die vergehende Zeit war nur eine Abstraktion, ungültig und unecht. Die Zeit stand still, nur die Erdzeit verging, in so ungeheurer Langsamkeit, dass ihm schwindlig wurde. Er stand auf der alten Mutter Erde, spürte ihren Atem durch sich hindurchwehen. Vor noch nicht langer Zeit hatte er an einem Wintertag auf dem verschneiten Waldweg zum Pfänder über Bregenz die Drehung der Erde gespürt. Auf der Autobahn im Tal waren die Schifahrer auf dem Rückstau in Richtung München gestanden, während er deutlich die Erde fühlte, wie sie sich drehte. Rasend schnell drehte sie sich, doch bis in den Waldweg drang die Drehung nur abgeschwächt, immerhin stark genug, dass ihm schwindelte. Er hatte wie aus sich selbst herausgehoben mitten im Wald gestanden und in die Ebenen jenseits des Bodensees hinausgeatmet.
    Das Licht im Weinberg schwand, Herr Faustini ruhte in sich als Ganzes, gerade weil er Teil von der Welt war. Selbst das Düsenflugzeug, das über den Wolken irgendwo am Himmel kratzte, gehörte zu dieser Ganzheit. War der Riss also verheilt? Und wenn ja, war er es für immer?
    Er winkte in Gedanken hinauf zu den ameisenkleinen Passagieren, die schlaftrunken in ihren Sitzen saßen und im letzten Abendrot auf die weißgraue Wolkendecke herabsehen mochten, während sie an ein Weltende katapultiert wurden, das doch auch hier unten im Weinberg anwesend war. Auch am entferntesten Punkt ihrer Ausdehnung, in der Abgeschiedenheit des Weinbergs hinter Edenkoben, war die Welt spürbar.
    In der fallenden Dämmerung war die Luft schwer von den gegorenen Trauben, die am Boden lagen. Man hatte sie vom Weinstock geschnitten, um den verbleibenden Trauben eine größere Süße zu geben. Herr Faustini hörte noch die heiteren Rufe der Erntehelfer aus gar nicht so alter Zeit, Männer und Frauen, die hölzernen Hotten auf dem Rücken,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher