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Die Augenblicke des Herrn Faustini - Roman

Die Augenblicke des Herrn Faustini - Roman

Titel: Die Augenblicke des Herrn Faustini - Roman
Autoren: Haymon
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oder, wie die Pfälzer sagen: die Hoddedräscher , die einander von Rebstock zu Rebstock ihre Scherze zuwarfen, bis sie gemeinsam in ein Lied einstimmten. Nach der Lese dann auf dem Fuhrwerk zur Weinpresse rumpelten, wo zuerst die Trauben Stück für Stück entrappt wurden.
    Mit einem Mal dumpfer Lärm. Ein doppeläugiges Monster kreischte mit Fernscheinwerfern durch die Weinstöcke. Es war eine turmhohe Weinlesemaschine, die die letzten Bilder von damals, die Scherze und Gesänge mit ohrenbetäubendem Lärm vertrieb.
    Herr Faustini flüchtete in den Wald, wo überall schon die aufgeplatzten Schalen der Edelkastanien lagen, die hier dicht an dicht standen.
    Die Siegessäule zum Andenken an den Sieg Preußens im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 leuchtete von Scheinwerfern angestrahlt. Zwischen den Kronen der Kiefern stand tiefgelb und schwer der Vollmond, auf dem deutlich einzelne Flecken erkennbar waren, Kontinente mit ihren Kratern, in denen nichts als Stille herrschte. Ein Krater trug seinen Namen, Faustini, es war in der Zeitung gestanden. Ob sein Krater auf der erdzugewandten Seite lag? Wenn nicht, würde er ihn niemals sehen können. Ob er seinen Krater nun sah oder nicht, vorträumen konnte er ihn sich.
    Das Land dehnte sich weit hinunter in den Süden. Da und dort übte eine einsame Grille ihren letzten Gesang in diesem Jahr.
    Ein Besuch der zweiten Edenkobener Modeschau kam nun nicht mehr in Frage. Schade drum. Der Salon Susanne hatte sich bestimmt solche Mühe gegeben, und auch beim Haartreff hatte man nicht geruht, ehe die Damen in tadelloser Haarpracht glänzten.
    Auf den Stromleitungen saßen aufgefädelt die Stare und quietschten, knarrten, tschilpten vor sich hin, um sich auf ein unsichtbares Zeichen wie ein einziger Körper in Wolkenformation in den Himmel aufzumachen, wo ihr Flug den herannahenden Winter ankündigte.
    Herr Faustini wäre so gerne mit ihnen geflogen. Alles, was er tun konnte, war mit ihnen aufbrechen.

13
    Am nächsten Morgen ging ein Mann gemessenen Schrittes durch den Weinberg, atmete ein letztes Mal den Geruch der reifen Trauben und des Tresters, den die turmhohen Maschinen als Dünger zwischen die Weinstöcke sieben, und betrat den Wald, in dem die rotgraublauen Stämme der Kiefern wie Minarette schimmerten. Eine Wolke von Staren zog über ihn hinweg mit tausendfachem Flügelknistern.
    Herr Faustini wollte den Pfälzer Wald zu Fuß durchqueren, und wenn es dauern sollte, umso besser. Er wollte sich im Wald das fremde Frankreich verdienen. Während er höher stieg und da und dort eine Kastanie auflas, winkte er im Stillen hinüber ins Elmsteiner Tal, wo Emil vielleicht bis ans Ende aller Tage seine Runden drehen würde. Auf einem Baumstumpf saß Frau Nussbächle, mit deren Hilfe Herr Faustini versucht hatte ganz zu werden. War es ihm gelungen? Er vertagte die Beantwortung der Frage und grüßte lächelnd die Therapeutin, die ihm freundlich winkend nachsah. Er winkte auch hinaus in die Rheinebene, denn hier im Wald schieden sich zwei Welten. Hinter dem Wald lag Frankreich. Übernachten wollte er, wo der Zufall ihn hinführte. Eine Schutzhütte, ein Gästehaus, eine alte Schänke wäre vielleicht noch übrig vom alten Pfälzer Wald.

14
    An einem Wintertag fragte ein Mann im dichten Schneetreiben in selbstgebasteltem Französisch nach dem Bahnhof. Der Bahnhof bleibt immer am Platz, sagte ein Mann mit tief in die Stirn gezogener Mütze, so als wisse doch jeder hier, wo der Bahnhof war. Es sei denn, jemand war ein Fremder. Herr Faustini bezweifelte diese These. Kaum ist es dunkel, dachte er, macht sich der Bahnhof auf leisen Sohlen davon. Deshalb muss man früh genug los, um nachzusehen, wo er sich versteckt hält. An den tiefen Winterabenden verändert sich die Welt. Alles ist anders, man muss nur hinsehen, wie sie sich einzieht, wie sie schrumpft. In der geschrumpften Welt wechselt auch ein Bahnhof seinen Ort.
    Verborgen hinter einer Wand aus fallendem Schnee fand Herr Faustini den Bahnhof. Die Schwingtür öffnete sich lautlos wie im Traum. Herr Faustini ging die Treppe der Unterführung hinab und die zum Bahnsteig hinauf. Gespenstisch still war es dort oben im schummrigen Licht. Auf einer Bank saßen eine Frau und ein Mann in dicken Wintermänteln. Beide hielten ein geöffnetes Buch vor sich. Schnee rieselte auf ihre Köpfe, auf die Seiten ihrer Bücher. Herr Faustini wartete auf eine Bewegung der beiden, denn möglicherweise hatte er das Monument der gefrorenen Leser vor sich.
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