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Die Augenblicke des Herrn Faustini - Roman

Die Augenblicke des Herrn Faustini - Roman

Titel: Die Augenblicke des Herrn Faustini - Roman
Autoren: Haymon
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Doch übertrieb er es vielleicht mit der Diskretion? Schließlich erlaubte die Frau ihm, ihren Koffer zu ziehen. Ermutigt von diesem Gedanken, öffnete sich Herrn Faustinis Mund, doch wie eigenartig trocken seine Lippen, seine Kehle waren, wie breit seine Zunge im Mund lag, es führte kein Weg an ihr vorbei, und Speichel, um sie zu lösen, war weit und breit keiner vorhanden. Herr Faustini konzentrierte sich also darauf, den Koffer der Frau mit dem schönen Gang zu ziehen, wobei er leichtfüßig und aufrecht wie lange nicht ging. Außerdem bemerkte er, dass er stolz war, diesen Koffer ziehen zu dürfen. Jawohl, er und kein anderer zog ihren Koffer. Bei diesem Gedanken ging Herr Faustini noch aufrechter auf noch leichteren Beinen.
    Die Herrin des Koffers steuerte auf den Zug nach Berlin zu, was leider nicht Herrn Faustinis Richtung war. Andererseits, was hinderte ihn daran, ebenfalls nach Berlin zu fahren? Niemand verpflichtete ihn dazu, nach Edenkoben zurückzukehren, um nachzusehen, ob sich im Weinberg der Augenblick verberge, in dem alles zusammenkäme. War die Begegnung mit dieser Frau nicht ein Zeichen, ein Hinweis, dass Herr Faustini möglicherweise dem Ende seiner Suche nahe war, und dass nicht nach Berlin zu fahren gleichbedeutend damit wäre, den einen Augenblick zu versäumen, allein aus Dummheit und Ignoranz? Andererseits, wie kam die Unbekannte mit dem weit und breit schönsten Gang dazu, dass Herr Faustini sich ungefragt an ihre Fersen heftete mit nichts als einer vagen Hoffnung im Gepäck? Aber war er nicht dem Wink der van der Hoochs auf die Rheingold gefolgt, und war es nicht gut so gewesen? Und war, indem er ihrem Wink folgte, nicht eins zum anderen gekommen? Eins zum anderen sogar so weit, dass er der Frau aus der Neustädter Fußgängerzone, der Herrin des Koffers, wiederbegegnet war? Nichts wollte er von dieser Frau, nichts als der Spur folgen, die ihr Gehen auf die Haut der Welt schrieb.
    Die Frau war vor die offene Tür ihres Waggons getreten, wollte ihren Koffer in Empfang nehmen, Herr Faustini ließ es sich jedoch nicht nehmen, den Koffer die Zugtreppe hinaufzuwuchten (wobei er beinahe das Gleichgewicht verloren hätte) und, der Reisenden in ihr Abteil folgend, den Koffer unter ihrem Sitz zu verstauen. Denn wenn er ihn auf der Gepäckablage über dem Sitz verstaute, hätte sie die größte Mühe, ihn am Ziel ihrer Reise von dort wieder herunterzuhieven.
    Sie war es, die etwas sagte, und zwar dankte sie Herrn Faustini herzlich für seine Hilfe, und sie fragte ihn, wohin er denn reise, ob er hoffentlich nicht ihretwegen seinen Zug versäume?
    Herrn Faustinis Zunge lag als hölzerner Balken in seinem Mund. Nein, brachte er beinahe heraus, er versäume nichts, es gebe auch andere Züge, sagte er beinahe, und ob es nicht einerlei wäre, wohin man fahre, denn eine Begegnung wie diese mit ihr, die ja schon die Fußgängerzone in Neustadt zum Broadway von Rheinland-Pfalz gemacht habe – eine solche Begegnung zu versäumen, wäre wohl weit schlimmer, als einen Zug zu versäumen, der ihn ohnehin nur dorthin bringen könne, wo die Suche nach dem Augenblick, in dem alles zusammenkäme, weiterging. Wenn aber die Suche schon zu Ende wäre, denn vielleicht sei dieser Augenblick gerade jetzt, da er ihr, der Frau mit dem Zaubergang, begegnete, nein, wiederbegegnete, vielleicht sei also gerade dies der Augenblick, für den er ausgefahren war nach einem Fingerzeig auf einer blinden Landkarte.
    Eine Lautsprecherstimme kündigte die Abfahrt des Zuges nach Berlin an.
    Fahren Sie auch nach Berlin?, fragte die Frau.
    Ob er ... ob alles in Ordnung sei?
    Herr Faustini erwachte aus seinen Gedanken, denn er hatte bislang kein Wort gesagt.
    Berlin? Nein, brachte er heraus, er müsse leider in die andere Richtung, habe im Weinberg etwas vergessen.
    Im Weinberg?, fragte die Frau.
    Eine Kleinigkeit, meinte Herr Faustini, aber eben doch wichtig genug, dass er jetzt leider aussteigen müsse.
    Schade, sagte die Frau.
    Ja, schade, meinte Herr Faustini, schüttelte ihr zerstreut die Hand, sie schenkte ihm ein wunderbar zartes Lächeln, hauchte ihm, der dem Ausgang entgegenstürzte, ein Danke hinterher, er sprang auf den Bahnsteig, die Zugtür schloss sich, die Frau winkte anmutig und elegant und, wie Herrn Faustini schien, unvergesslich, er stand gelähmt und wie ein Idiot vor ihrem Fenster, eingeschlossen in einen Augenblick, in dem nichts zusammenkommen konnte.
    Der Zug mit der Frau mit dem schönsten Gang der Welt rollte,
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