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Die Ameisen

Die Ameisen

Titel: Die Ameisen
Autoren: Bernard Werber
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geh nicht ohne den Brief.«
    Sie durchsuchte fieberhaft den großen Wandschrank, die eisernen Schubladen, schließlich fand sie einen weißen Umschlag, auf dem in eilig dahingeschriebenen Buchstaben stand: »Jonathan Wells.« Die Klappe des Umschlags war mit mehreren Klebestreifen verstärkt, um zu verhindern, daß er von selbst aufging. Jonathan riß ihn vorsichtig auf. Ein zerknittertes Blatt, wie aus einem Schulheft, fiel heraus. Nur ein einziger Satz war darauf notiert: NIEMALS DEN KELLER BETRETEN!
     
    Die Ameise zittert mit den Antennen. Sie ist wie ein Wagen, der lange im Schnee gestanden hat und nur mühsam wieder anspringt. Das Männchen versucht es mehrfach. Es reibt sie ein. Bestreicht sie mit warmem Speichel.
    Leben. Da ist es, der Motor springt wieder an. Eine Jahreszeit ist vorüber. Alles beginnt von vorn, als hätten sie nie diesen »kleinen Tod« erfahren.
    Es reibt sie weiter, um ihr Kalorien zu übertragen. Sie fühlt sich wohl jetzt. Während sich das Männchen weiter abmüht, richtet sie ihre Antennen in seine Richtung. Sie kitzelt es ganz sanft. Sie will wissen, wer es ist.
    Sie berührt das von seinem Kopf aus gesehen erste Segment und liest sein Alter: hundertdreiundsiebzig Tage. Auf dem zweiten erkennt die blinde Arbeiterin seine Kaste: zur Fortpflanzung bestimmtes Männchen. Auf dem dritten seine Rasse und seine Herkunft: rote Waldameise aus der Hauptstadt Bel-o-kan. Auf dem vierten entdeckt sie die Legenummer, die ihm als Benennung dient: es ist das 327. Männchen, das seit Herbstanfang geboren wurde.
    Dort bricht ihre olfaktorische Identifizierung ab. Die restlichen Segmente sind nicht fürs »Senden« bestimmt. Das fünfte dient dazu, die Pistenmoleküle aufzunehmen. Das sechste ist für einfache Dialoge bestimmt. Das siebte ermöglicht komplexere Dialoge geschlechtlicher Art. Das achte ist den Dialogen mit der Königin vorbehalten. Die drei letzten schließlich dienen als kleine Keulen.
    So, sie ist sämtliche elf Segmente der zweiten Hälfte der Antenne durchgegangen. Aber sie hat ihm nichts zu sagen.
    Also rückt sie von ihm ab und macht sich auf den Weg, um sich ihrerseits auf dem Dach der Stadt zu wärmen.
    Das Männchen tut es ihr nach. Schluß mit der Arbeit als Wärmebotschafter, jetzt beginnen die Instandsetzungsarbeiten!
    Oben angekommen, konstatiert das Männchen Nr. 327 die Schäden. Die Stadt ist kegelförmig gebaut, um den Unbilden der Witterung möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten.
    Dennoch war der Winter verheerend. Wind, Schnee und Hagel haben die oberste Schicht der Zweige weggefegt. Vogelmist verstopft die Ausgänge. Sie müssen sich schnell ans Werk machen. Nr. 327 huscht auf einen großen gelben Fleck zu und fällt mit seinen Mandibeln über die harten, übelriechenden Fäkalien her. Auf der anderen Seite erscheinen bereits die Umrisse eines Insekts, das von innen her gräbt.
     
    Der Spion hatte sich verdunkelt. Jemand betrachtete ihn durch die Tür.
    »Wer ist da?«
    »Mein Name ist Gougne … Ich komme wegen des Einbands.«
    Die Tür öffnete sich halb. Gougnes Blick fiel auf einen blonden Jungen von ungefähr zehn Jahren, dann, tiefer noch, auf einen winzigen Hund, der seine Nase durch die Beine des Kindes schob und anfing zu knurren.
    »Papa ist nicht da!«
    »Sind Sie sicher? Professor Wells wollte bei mir vorbeikommen, und …«
    »Professor Wells ist mein Großonkel. Er ist aber tot.«
    Nicolas wollte die Tür wieder schließen, doch Gougne trat hartnäckig näher.
    »Aufrichtiges Beileid. Aber sind Sie sicher, daß er nicht einen dicken Aktendeckel voller Blätter hinterlassen hat? Ich bin der Buchbinder. Er hat mich im voraus dafür bezahlt, daß ich seine Aufzeichnungen in Leder binde. Ich glaube, er hatte vor, eine Enzyklopädie anzulegen. Er wollte bei mir vorbeikommen, aber jetzt habe ich lange nichts mehr von ihm gehört …«
    »Ich hab doch gesagt, er ist tot.«
    Der Mann schob seinen Fuß weiter vor und drückte mit dem Knie gegen die Tür, als wollte er den Jungen umstoßen und eintreten. Der Miniaturhund begann wütend zu kläffen. Der Mann blieb stehen.
    »Verstehen Sie, es wäre mir ungeheuer peinlich, wenn ich meinen Verpflichtungen nicht nachkäme, und sei es posthum. Schauen Sie doch bitte nach. Irgendwo muß hier ein großer roter Ordner sein.«
    »Eine Enzyklopädie, sagten Sie?«
    »Ja, er hat dem Ganzen sogar einen Namen gegeben:
    ›Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens‹, aber es sollte mich wundern, wenn das auf dem
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