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Die Ameisen

Die Ameisen

Titel: Die Ameisen
Autoren: Bernard Werber
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man nicht einfach so bei alten Leuten vorbei.«
    »Sei nicht zynisch, Großmutter.«
    »Ich bin nicht zynisch, ich weiß nur, in was für einer Welt ich lebe, das ist alles. Komm, Schluß mit dem Getue, sag schon, was dich zu mir führt.«
    »Ich möchte, daß du mir von ›ihm‹ erzählst. Er vermacht mir seine Wohnung, dabei kenne ich ihn nicht mal …«
    »Edmond? Erinnerst du dich nicht mehr an ihn? Dabei hat er so gern Flieger mit dir gespielt. Ich weiß noch, einmal, da hat er …«
    »Ja, das weiß ich auch, aber davon abgesehen ist nur gähnende Leere …«
    Sie setzte sich in einen großen Sessel, achtete darauf, den Schonbezug nicht allzusehr zu zerknittern.
    »Edmond, hmm, Edmond war eine Persönlichkeit. Dein Onkel war noch ganz jung, da hat er mir schon Kummer gemacht. Es war kein Zuckerschlecken, seine Mutter zu sein.
    Weißt du, er hat zum Beispiel all seine Spielsachen kaputt-gemacht, einfach, um sie auseinanderzunehmen, und nicht etwa, um sie wieder zusammenzubauen. Und wenn es nur seine Spielsachen gewesen wären! Alles mögliche hate r auseinandergenommen: Uhren, Plattenspieler, die elektrische Zahnbürste. Einmal hat er sogar den Kühlschrank in alle Einzelteile zerlegt.«
    Wie zur Bestätigung begann die alte Wanduhr düsterz u schlagen. Auch sie hatte bei dem kleinen Edmond allerhand mitgemacht.
    »Und dann hatte er noch eine andere Marotte: Höhlen. Das ganze Haus hat er auf den Kopf gestellt, um sich seine Schlupfwinkel zu bauen. Eine hat er sich mit Decken und Schirmen auf dem Speicher gebaut, eine andere mit Stühlen und Pelzmänteln in seinem Zimmer. Darin hauste er dann den ganzen Tag, einfach so, inmitten der Schätze, die er dort hortete. Einmal hab ich nachgeschaut, beide waren voll von Kissen und dem ganzen Zeug, das er aus den Geräten geklaubt hatte. Das sah gar nicht so ungemütlich aus.«
    »Das machen doch alle Kinder …«
    »Vielleicht, aber bei ihm nahm das wundersame Ausmaße an. Er weigerte sich, ins Bett zu gehen, er schlief nur noch in einer seiner Höhlen. Manchmal blieb er tagelang darin. Als wollte er überwintern. Deine Mutter hat mal behauptet, in einem früheren Leben müsse er ein Eichhörnchen gewesen sein.«
    Jonathan lächelte ihr aufmunternd zu.
    »Eines Tages wollte er seine Bude unter dem Wohnzimmertisch bauen. Das war der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Dein Großvater, eigentlich ein friedlicher Mensch, hat einen Tobsuchtsanfall bekommen. Er hat ihm den Hintern versohlt, seine Höhlen zerstört und ihn gezwungen, im Bett zu schlafen.«
    Sie seufzte.
    »Von diesem Tag an hat er sich uns völlig entzogen. Als hätte jemand die Nabelschnur durchtrennt. Wir gehörten nicht mehr zu seiner Welt. Aber ich glaube, diese Prüfung war nötig, er mußte begreifen, daß sich die Welt nicht ewig seinen Launen beugt. Später, als er größer wurde, hat das Probleme gegeben. Er ertrug die Schule nicht mehr. ›Wie alle Kinder‹, wirst du wieder sagen. Aber bei ihm ging das darüber hinaus.
    Kennst du viele Kinder, die sich mit ihrem Gürtel in der Toilette aufhängen, weil sie von ihrem Lehrer einen Rüffel bekommen haben? Er, er hat sich mit sieben Jahren aufgehängt. Der Hausmeister hat ihn runtergeholt.«
    »Vielleicht war er zu sensibel …«
    »Zu sensibel? Von wegen! Ein Jahr später hat er versucht, einen seiner Lehrer mit einer Schere zu erstechen. Mitten ins Herz hat er gezielt. Zum Glück hat er nur sein Zigarettenetui erwischt.«
    Sie blickte zur Decke. Erinnerungen rieselten ihr wie Schneeflocken kunterbunt in den Sinn.
    »Danach hat sich das ein wenig gelegt, weil es einige Lehrer geschafft haben, seine Begeisterung zu wecken. Er hatte eine Eins in allen Fächern, die ihn interessierten, und eine Sechs in allen andern. Eins oder Sechs, sonst gab es nichts.«
    »Mama hat gesagt, er sei ein Genie.«
    »Deine Mutter schwärmte für ihn, weil er ihr erklärt hat, er versuche das »absolute Wissen« zu erlangen. Deine Mutter glaubte seit ihrem zehnten Lebensjahr an ein früheres Leben, und sie hat gedacht, er sei die Reinkarnation von Einstein oder Leonardo da Vinci.«
    »Also nicht nur ein Eichhörnchen?«
    »Warum nicht auch das. ›Es braucht viele Leben, um eine Seele zu schaffen‹, hat Buddha gesagt.«
    »Hat er IQ-Tests gemacht?«
    »Ja. Die waren ein totaler Reinfall. Dreiundzwanzig von hundertachtzig Punkten hat er erreicht, was leichten Schwachsinn bedeutet. Seine Lehrer haben gedacht, er sei verrückt und man müsse ihn in eine Anstalt
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