Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Ameisen

Die Ameisen

Titel: Die Ameisen
Autoren: Bernard Werber
Vom Netzwerk:
schütteln sich. Ihre Vorderbeine vereinen sich wie zum Gebet, aber nein, sie befeuchten ihre Krallen, um ihre Antennen zu reinigen.
    Die zwölf, die aufgewacht sind, reiben sich gegenseitig ab.
    Dann versuchen sie, ihre Nachbarn zu wecken. Aber sie haben kaum Kraft, ihre eigenen Körper zu bewegen, sie können noch keine Energie weitergeben. Sie lassen davon ab.
    Und so bahnen sie sich mühsam einen Weg inmitten der statuengleichen Körper ihrer Schwestern. Sie krabbeln auf die Große Außenwelt zu. Ihr Organismus mit dem noch kalten Blut muß die Kalorien des Tagesgestirns aufnehmen.
     
    Ermattet rücken sie vor. Jeder Schritt schmerzt. Sie haben größte Lust, sich wieder hinzulegen, friedlich dazuliegen wie Millionen ihresgleichen! Aber nein. Sie sind die ersten, die aufgewacht sind. Es ist nun ihre Pflicht, die ganze Stadt wiederzubeleben.
    Sie durchdringen die Hülle der Stadt. Das Sonnenlicht blendet sie, aber der Kontakt mit der puren Energie ist dermaßen stärkend!
     
    Sonne, geh ein in unsre hohlen Körper Bewege unsre schmerzenden Muskeln Und vereine unsre geteilten Gedanken.
     
    Das ist ein altes Morgenlied der roten Ameisen aus dem hundertsten Jahrtausend. Schon damals hatten sie Lust, beim ersten Kontakt mit der Wärme innerlich zu jubilieren.
    Kaum draußen, beginnen sie sich methodisch zu waschen.
    Sie sondern einen weißen Speichel ab und bestreichen ihre Kiefer und ihre Beine.
    Sie bürsten sich ab. Das ist eine einzige, immergleiche Zeremonie. Zuerst die Augen. Die eintausenddreihundert kleinen »Bullaugen«, die jedes Auge kugelrund formen, werden entstaubt, befeuchtet, getrocknet. Genauso gehen sie bei den Antennen vor, bei den unteren Gliedern, den mittleren Gliedern, den oberen Gliedern. Zum Schluß putzen sie ihre schönen roten Panzer, bis sie glänzen wie Tropfen aus Feuer.
     
    Unter den zwölf, die aufgewacht sind, ist ein zur Fortpflanzung bestimmtes Männchen. Es ist ein wenig kleiner als der Durchschnitt der belokanischen Bevölkerung. Es hat schmale Oberkiefer, und es ist darauf programmiert, nicht länger als einige Monate zu leben, aber es ist auch mit Vorzügen ausgestattet, die seinen Mitbrüdern vorenthalten sind.
    Erstes Privileg seiner Kaste: Da es geschlechtlich differenziert ist, besitzt es fünf Augen. Zwei große, kugelförmige Augen, die ihm ein Sichtfeld von hundertachtzig Grad verleihen. Plus drei kleine Ozellen, die in Form eines Dreiecks auf der Stirn angeordnet sind. Diese überzähligen Augen sind in Wirklichkeit Infrarotsensoren, die es ihm erlauben, aus der Ferne jegliche Wärmequelle zu registrieren, selbst in völliger Dunkelheit.
    Dieses Charakteristikum erweist sich als um so wertvoller, als die meisten Bewohner der großen Städte dieses hundert-tausendsten Jahrtausends vollständig blind geworden sind, da sie ihr ganzes Leben unter der Erde verbringen.
    Aber das ist nicht seine einzige Besonderheit. Er verfügt auch (wie die Weibchen) über Flügel, die es ihm eines Tages möglich machen, zu fliegen, um die Liebe zu vollziehen.
    Sein Thorax ist durch einen speziellen Schild geschützt: das Mesotonum.
    Seine Antennen sind länger und sensibler als die der übrigen Bewohner.
    Dieses junge Männchen bleibt eine ganze Weile auf der Kuppel und lädt sich mit Sonne auf. Dann, als es wohlaufgewärmt ist, kehrt es in die Stadt zurück. Einstweilen gehört es zur Kaste der »Wärmeboten«.
    Es bewegt sich durch die Gänge der dritten unteren Etage.
    Hier schläft alles noch tief. Die erfrorenen Körper sind erstarrt. Die Antennen hängen schlaff herab.
    Die Ameisen träumen noch.
    Das junge Männchen schiebt sein Bein auf eine Arbeiterin zu, um sie mit der Wärme seines Körpers aufzuwecken. Der lauwarme Kontakt löst einen angenehmen elektrischen Schlag aus.
     
    Nach dem zweiten Klingeln war ein Tippeln wie von einer Maus zu hören. Die Tür öffnete sich mit leichter Verzögerung, weil Großmutter Augusta erst die Sicherheitskette lösen mußte.
    Seit dem Tod ihrer beiden Kinder lebte sie zurückgezogen auf diesen dreißig Quadratmetern, ließ sie die alten Erinnerungen vorbeiziehen. Das war sicher nicht gut für sie, hatte jedoch nichts an ihrer Liebenswürdigkeit geändert.
    »Ich weiß, es ist lächerlich, aber zieh bitte die Filzpantoffeln an. Ich habe gerade das Parkett gebohnert.«
    Jonathan gehorchte. Sie huschte voraus, führte ihn in ein Wohnzimmer, dessen zahlreiche Möbel mit Schonbezügen versehen waren. Jonathan setzte sich auf die Kante des Sofas,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher