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Die Ameisen

Die Ameisen

Titel: Die Ameisen
Autoren: Bernard Werber
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scheiterte jedoch bei dem Versuch, der Plastikhülle kein Quietschen zu entlocken.
    »Ich freu mich so, daß du gekommen bist … Ob du’s glaubst oder nicht, ich hatte vor, dich in den nächsten Tagen anzurufen.«
    »Aha?«
    »Stell dir vor, Edmond hat mir etwas für dich dagelassen.
    Einen Brief. Er hat gesagt: ›Wenn ich sterbe, mußt du Jonathan unbedingt diesen Brief geben.‹«
    »Ein Brief?«
    »Ein Brief, ja, ein Brief … Hmm, wenn ich nur wüßte, wo ich ihn gelassen habe. Warte mal … Er gibt mir den Brief, ich sag noch, ich werde ihn wegtun, lege ihn in eine Dose. Das muß eine dieser Blechdosen in dem großen Schrank gewesen sein.«
    Sie begann Schlittschuh zu laufen, hielt jedoch nach dem dritten Gleichschritt inne.
    »Nein, was bin ich dumm! Was ist das nur für ein Empfang!
    Du trinkst doch sicher ein Täßchen Tee?«
    »Gern.«
    Sie verschwand in der Küche, und man hörte Töpfe scheppern.
    »Erzähl mir doch, wie’s dir geht, Jonathan!« rief sie.
    »Puh, nicht so toll. Ich hab meinen Arbeitsplatz verloren.«
    Großmutter steckte kurz ihren weißen Mäuschenkopf durch die Tür, dann erschien sie ganz, mit ernster Miene, eingepackt in eine lange, blaue Schürze.
    »Haben sie dich entlassen?«
    »Ja.«
    »Warum?«
    »Weißt du, der Schlüsseldienst ist ein eigenartiges Gewerbe.
    Unser Unternehmen, ›SOS Schlüssel‹, ist rund um die Uhr in ganz Paris tätig. Na ja, und nachdem einer meiner Kollegen überfallen worden ist, habe ich mich geweigert, abends in zwielichtigen Vierteln herumzufahren. Daraufhin haben sie mich gefeuert.«
    »Das war richtig von dir. Besser keine Arbeit und gesund als umgekehrt.«
    »Außerdem habe ich mich mit meinem Chef nicht besonders verstanden.«
    »Und deine Erfahrungen mit den utopischen Gesellschaften?
    Zu meiner Zeit nannte man das die New-Age-Gesellschaften.«
    (Sie lachte verhalten, sie hatte das ausgesprochen wie »’ne Waage«.)
    »Das habe ich nach dem Reinfall mit dem Bauernhof in den Pyrenäen aufgegeben. Lucie war es leid, ständig für alle zu kochen und zu spülen. Es gab ein paar Parasiten unter uns. Lucie und ich sind sauer geworden. Jetzt lebe ich nur noch mit Lucie und Nicolas … Und wie geht’s dir, Großmutter? «
    »Mir? Ich lebe. Damit hat man genug zu tun.«
    »Du Glückliche! Du hast noch die Jahrtausendwende erlebt
    …«
    »Och, weißt du, am meisten wundert es mich, daß sich nichts geändert hat. Früher, als ich noch blutjung war, da haben wir geglaubt, nach der Jahrtausendwende würden sich außergewöhnliche Dinge ereignen, und wie du siehst, hat sich nichts geändert. Es gibt immer noch alte, einsame Leute, immer noch Arbeitslose, immer noch Autos, die Rauch erzeugen. Nicht einmal die Ideen haben sich weiterentwickelt. Guck mal, letztes Jahr hat man den Surrealismus wiederentdeckt, vorletztes Jahr den Rock’n Roll, und für diesen Sommer kündigen die Zeitungen das große Comeback des Minirocks an. Wenn das so weitergeht, werden bald noch die Erfindungen vom Beginn des letzten Jahrhunderts wieder hervorgeholt: der Kommunismus, die Psychoanalyse und die Relativitätstheorie …«
    Jonathan lächelte.
    »Einige Fortschritte gibt es aber doch: die durchschnittliche Lebensdauer des Menschen ist gestiegen, ebenso die Anzahl der Scheidungen, der Grad der Luftverschmutzung, die Länge der Metro-Linien …«
    »Na fein. Ich hab geglaubt, wir hätten alle unser eigenes Flugzeug und könnten vom Balkon abheben. Weißt du, als ich jung war, hatten die Leute Angst vor dem Atomkrieg. Das war eine tolle Angst. Mit hundert Jahren in der Glut eines gigantischen Atompilzes zu sterben, gemeinsam mit dem Planeten unterzugehen, das hatte schon was. Statt dessen werde ich wie eine alte verfaulte Kartoffel enden. Und alle Welt wird sich ’nen Dreck darum scheren.«
    »Aber nein. Großmutter, aber nein.«
    Sie wischte sich über die Stirn. »Außerdem wird es immer heißer. Zu meiner Zeit ware s nicht so heiß. Da gab es noch richtige Winter und richtige Sommer. Jetzt fängt die Gluthitze schon im März an.«
    Sie ging wieder in ihre Küche, hüpfte dorthin, um mit seltener Gewandtheit sämtliche Utensilien zu angeln, die für die Zubereitung eines richtig guten Kräutertees erforderlich waren. Man hörte ein Streichholz aufflammen und kurz darauf das Gas, das durch die altmodischen Düsen ihres Herdes zischte, dann kehrte sie, um einiges entspannter, wieder zurück.
    »Nun denn, du bist sicher aus einem bestimmten Grund gekommen. Heutzutage schaut
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