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Die Amazonen von Vanga

Die Amazonen von Vanga

Titel: Die Amazonen von Vanga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hubert Haensel
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wenn ihnen geballte Kraft innewohnte, ließen sich keine überraschenden Sprünge mehr ausführen, keine Fechthiebe, die den Gegner verunsichern sollten. Nach und nach hatte sie ihre Geschicklichkeit durch wirkliche Stärke ersetzen müssen. Aber sie wußte, wie sie die manchmal spielerisch anmutenden Streiche abwehren konnte, wie sie dem shantiga widerstand und dem tobigata. Die Kampfweise der ersten Turniere war ihr in Fleisch und Blut übergegangen.
    Der Schwertmond der Zaubermutter Zaem stand bevor, welche Herrin war über das Land Ganzak, in dem Burra geboren wurde. Wenn der goldene Schimmer am nächtlichen Himmel zu seiner vollen Größe angewachsen war, nahte die Zeit des Abschieds. Dann würde Burra den Kuß der Zaubermutter erhalten - und mit ihr Dutzende anderer, die ebenso darauf brannten, Mut und Tapferkeit zu beweisen, ihr Leben hinzugeben auf dem Feld für die Geschicke des Lichtes.
    Der Tau des frühen Tages lag noch auf den Gräsern, als Burra ziellos durch den Burghof schritt. Die Luft war erfüllt vom Gesang der Vögel und dem Schlag schneller Schwingen. Irgendwo in der Ferne erklang das Tosen der Brandung, die sich schäumend zwischen den Klippen brach. Ein heller Schimmer zeichnete sich am Östlichen Horizont ab, wo die Flut auflief.
    Burra hatte kaum Augen für die Schönheit der erwachenden Natur. Ihre Hand hielt den Bogen, auf dessen Sehne ein Pfeil lag.
    Turmfalken schwebten lautlos vorüber - zu nahe, als daß die Frau ihnen mehr als nur einen flüchtigen Blick geschenkt hätte.
    Endlich erspähte sie einen Vogel, der hoch droben im Dunst der Schleierwolken seine Kreise zog. Für eine Weile verfolgte sie seinen Flug. Die Entfernung mochte mehr als zweihundert Schritte betragen und war viel zu groß für einen sicheren Schuß, dennoch spannte Burra ihren Bogen und ließ den Pfeil abschwirren.
    Der Vogel, als ahne er die Gefahr, stieg flatternd höher. Doch mitten in der Bewegung getroffen, fiel er wie ein Stein in die Tiefe.
    Burra schulterte den Bogen und eilte, um ihre Beute zu holen. Sie fand das prächtig gefiederte Tier nach einiger Suche am Rand eines blühenden Dornenbuschs. Der Pfeil war ihm mitten ins Herz gedrungen und hatte seinem Leben ein jähes Ende gesetzt.
    Abschätzend wog sie den Vogel in der Rechten. Fünf oder sechs von seiner Größe mochten ausreichen, ihren ärgsten Hunger zu stillen.
    Plötzlich bemerkte sie, daß der Blick der lidlosen Augen auf ihr ruhte. Der Vogel war tot, und doch starrte er Burra an, als wolle er um Hilfe flehen.
    Erinnerungen erwachten in der Frau zu neuem Leben.
    Aus den Augen des Tieres schien Gaida sie anzusehen; der weit aufgerissene Schnabel veränderte sich, wurde zu einem menschlichen Mund, der Schmerz und unsagbaren Haß widerspiegelte. Blut rann zwischen den Lippen hervor - es war das Blut des Vogels, das Burras Finger näßte, und doch…
    Was all die Jahre hindurch nur eine Ahnung gewesen war, wurde mit einemmal zur Gewißheit. Gaida von Anakrom weilte nicht mehr unter den Lebenden.
    »Wenn das Herz des Sturmvogels bricht, offenbart sich das Böse«, murmelte Burra leise vor sich hin. Lange und nachdenklich betrachtete sie den gefiederten Körper und fragte sich dabei, ob dem wirklich so war.
    Hatte die Vorsehung ihren Pfeil geführt oder trugen die Mächte der Magie Schuld daran?
    Burras Bindung zu ihrer Mutter war tief verwurzelt. Selbst die lange Zeit der Trennung hatte dieses Gefühl nicht schwinden lassen. Die angehende Amazone besaß die Kräfte eines Bären, konnte im Schwertkampf abgeschlagene Köpfe und Gliedmaßen sehen, ohne den geringsten Schauder zu verspüren, doch im Grunde ihrer Seele sehnte sie sich nach einer Kindheit, die sie nie erleben durfte. Nur hatte sie diese Gedanken von der Oberfläche ihres Seins verbannt, ohne sie sich jemals einzugestehen.
    Unbewußt lenkte Burra ihre Schritte in Richtung des kleinen Teiches, der inmitten des Burggartens eine Oase der Ruhe und des Friedens bildete. Aus weißem Kies geschüttete Wege zogen sich in engen Windungen durch eine üppig grünende und blühende Pflanzenpracht. Munter plätschernde Rinnsale vereinten sich zu kleinen Bächen, deren Ufer von Schilfrohr gesäumt wurden.
    Die Frau verhielt am Rand des Teiches, der ruhig und unbewegt vor ihr lag. Das Wasser war so klar, daß sie bis auf den Grund sehen konnte. Ihr Antlitz spiegelte sich auf einer Oberfläche. Das Gesicht, das Burra anblickte, war nicht mehr das des kleinen Mädchens. Es hatte sich gewandelt, war kantig

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