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Der zweite Kuss des Judas.

Der zweite Kuss des Judas.

Titel: Der zweite Kuss des Judas.
Autoren: Andrea Camilleri
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Baucina mit Blick auf die Hauptkirche errichtet. Die großartigen farbenprächtigen Kostüme wie auch die Geräte für szenische Effekte und die Requisiten wurden wie jedes Jahr von der Firma Ronconi & Co. in Palermo geliehen. Eine wahre Augenweide war das Spiel der über einhundert Komparsen, die von Alessandro Santoro, dem Chef der Stadtpolizei, angeführt wurden. An den vier Ecken der Bühne stand jeweils ein Wachtmeister in Galauniform. In diesem Jahr gab es eine sehr willkommene und bewegende Neuerung: Während des Aufstiegs auf den Kalvarienberg spielte die Stadtkapelle unter der hervorragenden Leitung von Maestro Salvatore Cusumano einen ergreifenden Trauermarsch, den der Maestro eigens komponiert hatte.
    Zu den Damen und Herren Schauspielern wollen wir nach einer notwendigen kurzen historischen Einleitung kommen. Bis 1885 erboten sich Bauern, Hirten, Fuhrleute und Fischer, die Rollen zu spielen, während Jesus meisterlich von Dekan Don Spiridione Randazzo dargestellt wurde, der auch mit der künstlerischen Leitung des ganzen Theaterstückes betraut war. Als Don Randazzo 1885 das sechzigste Lebensjahr vollendete, erklärte er öffentlich, die Bürde dieser Rolle nicht länger tragen zu können, außerdem unterschied sich seine bejahrte Gestalt zu sehr von der des dreiunddreißigjährigen Heilands. So stellte sich das Problem seiner Nachfolge. Traditionsgemäß wird überall auf der Insel von jeher ein Kirchenmann mit der Rolle des Jesus betraut, denn es scheint nicht angebracht, in die heilige Rolle eine Person schlüpfen zu lassen, die mit frommen Dingen nicht wenigstens etwas vertraut ist. Zu der Zeit waren in Vigàta außer dem erwähnten Don Randazzo sechs Geistliche tätig, und zwar: Don Saverio Spreafico, der an solcher Fettleibigkeit litt, dass ihm das Gehen beschwerlich war; Don Liborio Interdonato, der, im Gegensatz zu Don Spreafico, Haut und Knochen war und von seiner Pfarrgemeinde scherzhaft »a crozza« (der Schädel) genannt wurde; Don Basilio Persichella, der stark hinkte, weil bei einer seiner Predigten die Kanzel abgestürzt war; der achtzigjährige Don Liberato Tortorella; Don Cono Risippa, ebenfalls in fortgeschrittenem Alter. So blieb noch Don Filiberto Archirafi, ein gut aussehender Mann von fünfunddreißig Jahren, der zuerst verkündete, er fühle sich geehrt, und die Aufgabe annahm. Doch am dritten Tag der Proben erklärte er, er sei der Rolle nicht gewachsen, und war durch nichts von seinem Entschluss abzubringen. Der Vollständigkeit halber muss hinzugefügt werden, dass Don Archirafi im folgenden Jahr auf eigenen Wunsch als Missionar nach Afrika entsandt wurde. Tatkräftig, wie er war, besetzte Don Randazzo die Rolle unverzüglich mit Signor Erasmo Giuffrida, Lehrer an der örtlichen Volksschule, einem frommen Mann und Familienvater. Wie es in der Natur des Menschen liegt, löste Don Randazzos Entscheidung, die mit einer hundertjährigen Tradition brach, vielerlei erhitzte Dispute aus. Gegner aus Vigàta machten Aushänge, auf denen die Wahl des Dekans missbilligt wurde. Das entschlossene Eingreifen S. Exz., des Hwst. Herrn Bischof von Montelusa, zu Gunsten von Don Randazzo setzte dem unerfreulichen Streit ein Ende. Der Lehrer Giuffrida nahm unter der Bedingung an, dass als Nachfolger des gefeierten Schauspielers, der seit Jahren die Rolle des Judas innehatte, Antonio Patò aus Montelusa eintrat, sein Freund und ehemaliger Schulkamerad, Direktor der örtlichen Filiale der Banca di Trinacria und ebenfalls Familienvater, ein Mann von glänzendem Leumund. Antonio Patò beugte sich gern dem Wunsch des Freundes. Der Einzug des Lehrers Giuffrida und des Filialdirektors Patò in die Reihen der Schauspieler führte dazu, dass sich die Gesellschaftsschicht der rührigen Teilnehmer des Passionsspiels wesentlich veränderte. Während Fischer und Bauern weiterhin, jedoch als Komparsen, die Bühne betraten, machten die Damen und Herren des Bürgertums sich anheischig, in dem geistlichen Drama die Hauptrollen zu spielen. Doch nun zur Aufführung vom gestrigen Nachmittag. Wir wollen bei den verehrten Damen beginnen. Besonders ragte Signora Annamaria Zigaina vor den anderen heraus, die als Maria den Tod des geliebten Sohnes mit so gequälter und verzweifelter Stimme beweinte, dass auch ein noch so hartes Herz erweichen musste. Zwei Zuschauerinnen fielen vor Ergriffenheit in Ohnmacht. Der pflichtbewusste Doktor Angelo Sommatino hatte klugerweise seinen Arztkoffer dabei; er nahm sich der beiden Frauen
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