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Der zweite Kuss des Judas.

Der zweite Kuss des Judas.

Titel: Der zweite Kuss des Judas.
Autoren: Andrea Camilleri
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den Kopf in die Schlinge steckte und dabei verzweifelt den Teufel beschwor, dass sich die Erde unter seinen Füßen auftun möge. Und genau das geschah zum Entsetzen der Anwesenden, und zwar mithilfe einer eigens eingerichteten Bodenluke, die der Schauspieler selbst zum richtigen Zeitpunkt mit einer kleinen Bewegung des Fußes betätigte. Eine solche bühnentechnische Lösung fand großen Anklang. Und so hat man vor langer Zeit ebendiese für die Aufführungen des »Passionsspiels« in Vigàta gewählt.
    Consolato Federigo

    Anmerkung
      Der Autor, Andrea Camilleri, hat lange gezögert, den Dokumenten diesen Artikel von Professor Consolato Federigo hinzuzufügen. Nicht weil er Unrichtigkeiten enthielte, sondern weil er den Aufsatz von Alfonso Zaccaria recht frei und mit etlichen groben Fehlern zitiert und dabei sogar zwei ganze Seiten plagiiert, die aus der Feder von Giuseppe Pitrè (»Sizilianische Schauspiele und Volksfeste«) stammen. Wir bitten den geneigten Leser, dies zu entschuldigen.

    KÖNIGLICHES POLIZEIKOMMISSARIAT VIGÀTA
    An den Signor Questore Polizeipräsidium Montelusa
    Vigàta, den 21. März 1890
Tgb.-Nr.209
Betreff: Täglicher Bericht

      Hiermit wird gemeldet, dass in Vigàta am heutigen Karfreitag, dem 21. März, angelegentlich der Aufführung des Passionsspiels außer den ortsansässigen Bürgern auch circa zweitausend Auswärtige aus den umliegenden Ortschaften auf der Piazza Grande zusammengeströmt sind. Die Öffentliche Ordnung wurde, dank der unermüdlichen Tatkraft meiner Untergebenen, die sich in aufopfernder Weise eingesetzt haben, dennoch aufrechterhalten. In Gewahrsam genommen wurden folgende Subjekte, deren Namen und Nachnamen im Anhang stehen.
    1) sechs Taschendiebe;

    2) neun Personen, die in drei verschiedene Schlägereien verwickelt waren;
      3) ein Subjekt, das sich den Hosenlatz geöffnet hatte und verheirateten Frauen, Fräuleins und jungen Mädchen sein erigiertes Geschlecht zeigte. Die Festnahme wurde unverzüglich vorgenommen, nicht nur, um dieser Obszönität ein Ende zu setzen, sondern auch um den Mann vor wütenden Ehegatten, Verlobten und Brüdern zu schützen;

    4) drei Subjekte, die sich partout auf die der Obrigkeit vorbehaltenen Plätze setzen wollten;

    5) eine Person, die aus vollem Halse »Tod dem König und allen Tyrannen!« schrie;
    6) eine weitere Person, die mit lauter Stimme »der Bürgermeister ist ein Scheißkerl!« schrie;
    7) ein Subjekt, das hintereinander drei Liter Wein getrunken hatte, sich dann weigerte, die Rechnung zu bezahlen, und, damit nicht genug, auch noch versuchte, das Lokal in Brand zu setzen,
    was ihm teilweise gelang.
      Im Verlauf der oben erwähnten Einsätze erlitten zwei Beamte geringfügige Prellungen und Schrammen. Schließlich weise ich noch darauf hin, dass ein unbekannter Zuschauer ein Messer, ein so genanntes »liccasapuni«, dessen Klinge eine Elle misst, gegen den Schauspieler geschleudert hat, der als Judas auftrat, in diesem unserem Fall gegen Filialdirektor Antonio Patò. Glücklicherweise hat die Waffe ihr Ziel verfehlt und ist in den Bühnenbrettern stecken geblieben. Die unbedachte Tat gilt jedoch nicht als persönlich gegen Antonio Patò gerichtet, sondern als spontaner Protest eines frommen Gläubigen gegen den Verrat durch Judas.
    Der Polizeikommissar (Ernesto Bellavia)

    STATION DER KÖNIGLICHEN CARABINIERI VIGÀTA

    An
    Signor Capitano Arturo Carlo Bosisio
    Kommando der Königlichen Carabinieri Montelusa Vigàta, den 21. März 1890
    Betreff: Vertraulicher Bericht Tgb.-Nr. (nicht eingetragen)

    Signor Capitano, zu Ihrer Kenntnisnahme melde ich wie folgt: Circa eine halbe Stunde nach Ende der Aufführung des Passionsspiels auf der Piazza Grande wurde, dieweil Sie mit der Begrüßung anderer Gäste beschäftigt waren, Signor Marchese Simone Curtò di Baucina, sichtbar erregt und durcheinander, bei mir vorstellig und erklärte wie folgt: Er schickte voraus, dass er nie wieder die Benutzung des Palasthofes und der vier angrenzenden Lagerräume gestatten werde, und zwar aufgrund des Zustands, in dem die Komparsen alles hinterlassen hätten (sogar ihre große und kleine Notdurft hätten sie dort verrichtet, selbst in dem kunstvollen Brunnen, der sich in der Mitte des genannten Innenhofes erhebt), und fuhr dann fort wie folgt:
      Er wollte nach Ende der Vorstellung seine Frau Mutter aufsuchen, Prinzessin Imelda Sanjust degli Orticelli geborene Piovasco di Rondo, die sich geweigert hatte, dem Passionsspiel
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