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Der zweite Kuss des Judas.

Der zweite Kuss des Judas.

Titel: Der zweite Kuss des Judas.
Autoren: Andrea Camilleri
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allen ragt der einfältige und komische Schäfer namens Nardo hervor. Man pflegt mit dieser Rolle einen ungeübten Schauspieler zu betrauen, ausgewählt unter jenen, die sich im Dorf durch Bauernschläue hervortun. Die Rolle des Nardo ist also improvisiert und daher stark von der momentanen Laune des jeweiligen Akteurs getragen. Nardo, hat der bereits zitierte Zaccaria vortrefflich geschrieben, »verkörpert den rebellischen Geist des einfachen Publikums, die Revolten gegen die Knechtschaft, den natürlichen Hang zum Spott, zum höhnischen Kontern, zur saftigen Komik«. So nimmt es nicht Wunder, dass die erheiterndsten Einfälle der ortsansässigen Nardos nicht innerhalb der Dorfgrenzen geblieben sind, sondern von Ort zu Ort weitergetragen wurden, wobei die neuen Ideen das ursprüngliche »Hirtenspiel« verdrängten und es mittlerweile äußerst schwierig ist, die Urfassung von Pater Fedele zu rekonstruieren. Von den verfälschten Szenen, die zum festen Bestandteil des Repertoires wurden, ist jene Szene denkwürdig, in der Nardo, mit künstlichem Bart und in fremdem Rock, vor den Toren Bethlehems auf den Teufel stößt. Et de hoc satis, unsere eigentliche Absicht ist es ja, den Nichtkundigen das »Passionsspiel« zu erläutern, wie es heute aufgeführt wird. Autor der »Erlösung Adams im Tode Jesu Christi« (in Wahrheit der ursprüngliche Titel dessen, was gemeinhin »Passionsspiel« genannt wird) ist Cavaliere Filippo Orioles. Über diesen Schriftsteller konnte ich nichts in Erfahrung bringen, so viel ich in Büchern und Manuskripten auch gesucht habe. Glücklicherweise wird er im »Palermitanischen Tagebuch« des Marchese Villabianca erwähnt, in einem bisher unveröffentlichten Kapitel, in dem Folgendes nachzulesen ist: »August 1793. Aus zwei Gründen schreibe ich ausnahmsweislich in diesen Erinnerungen über den Tod eines kleinen Mannes namens Filippo Orioles. Erstens war er ein guter Poet und Stegreifdichter lateinischer Verse, der mit seinen dramatischen Werken seinen Namen in den öffentlichen Buchdruckerpressen hinterlassen und die Passion Jesu Christi zur Aufführung gebracht hat. Zweitens wurde er hundertsechs Jahre alt, was sich bei den Menschen selten ereignet.«
      Es bedarf der Erklärung, dass Villabianca, wenn er Orioles einen »kleinen Mann« nennt, sich nicht auf dessen körperliche Erscheinung bezieht, sondern vielmehr auf seine Herkunft, sodass man wohl zu Recht behauptet, Orioles stünde der Titel Cavaliere nicht zu, den er darüber hinaus mit der adeligen Partikel »de« andeutete, die er seinem Nachnamen voranstellte. Die Tragödie besteht aus drei Akten mit einem Prolog und sieht nicht weniger als 44 Akteure vor, die jedoch, wie der Autor in der gedruckten Ausgabe von 1750 selbst vermerkt, auf 19 beschränkt werden können. Noch nie hat eine Tragödie von sizilianischer Feder bei uns solchen Anklang gefunden wie die »Erlösung Adams«. Weit verbreitet und ungezählt sind die handgeschriebenen Abschriften in ganz Sizilien, die durch grobe Fehler, Possen, willkürliche Interpolationen und Abwandlungen verdorben sind.
    Von diesen Abwandlungen mag die erheblichste jene sein, bei der es um den Tod des Judas geht. In der Ausgabe von 1750, die vom Autor an der Buchdruckerpresse hätte geprüft werden sollen, was aber anscheinend unterblieb, wurde Judas' Tod dem Zuschauer mittels einer Szene nahe gebracht, in der der Verräter ein Seil mit einer Schlinge in der Hand hält und fluchtartig von der Bühne abgeht, um sich zu erhängen, gefolgt von der Hoffnung, der Vergebung, der Reue und dem Glauben. Diese vier Figuren, die Judas' Geleit bilden, wegzulassen rät der Autor in einer einleitenden Notiz den Theaterregisseuren, nur der Verräter solle von der Bühne geschickt werden. Offenkundig hielt Orioles es für nicht günstig, vor aller Augen eine Erhängung darzustellen, und sei es auch die Erhängung des Judas, und zwar sowohl aus moralischer Sicht (gewiss hätte sich ein Zensor der Kurie darüber empört, und mit Fug), als auch aus praktischer Sicht (da die Gefahr eines tödlichen Unfalls sehr hoch war). Jedoch erzielte ein derartiger Abgang von der Bühne, obgleich gewürzt mit lautem Wehklagen und verzweifelten Reueschwüren, beim Publikum keine reinigende Wirkung. So kam jemand auf den Gedanken, es so einzurichten, dass Judas Ischariot, wenn er mit der Schlinge in der Hand an die für den Selbstmord vorgesehene Stelle trat, wo ein künstlicher Baum bereitstand, das Seil an einem Ast festband,
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