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Der zweite Kuss des Judas.

Der zweite Kuss des Judas.

Titel: Der zweite Kuss des Judas.
Autoren: Andrea Camilleri
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mit Regierungsgeschäften überlastet ist. Schade! Die Bürgerschaft hätte die Gelegenheit wahrgenommen, um sich um ihn zu scharen und ihm für seine beiden neuesten Geschenke zu danken: die Installation der großen Senkgrube und das kommunale Waschhaus. Man erwartet einen großen Andrang von Zuschauern aus den umliegenden Ortschaften. Für diesen Fall hat Bürgermeister Caruana geeignete Vorkehrungen getroffen, einschließlich Imbiss-Stätten und Latrinen. Dieses Jahr wurde die große Bühne für das Passionsspiel, erbaut unter Leitung des hervorragenden Zimmermanns Cosimo Vapano, nicht mehr am Fuß der Treppe zur Hauptkirche errichtet, sondern vor dem gegenüberliegenden Palast der Marchesi Curtò di Baucina. Marchese Simone Curtò gestattet, was von den Bürgern sehr begrüßt wird, die Benutzung von vier der Vorratshaltung dienenden Lagerräumen, deren Türen auf den großen Innenhof des Herrenhauses hinausgehen. In zweien dieser Lagerräume können sich bequem die hundert Komparsen umziehen, die nach Geschlechtern getrennt sind, sodass keine Vermischung derselben zu beklagen sein wird. Die beiden anderen Lagerräume werden der gleichen Verwendung dienen: Hier können sich die verehrten Schauspielerinnen wie auch die werten Schauspieler umkleiden, 22 an der Zahl, unter denen sich die Namen von Honoratioren und ehrbaren Kaufleuten aus Vigàta finden, die schon in der Vergangenheit auf solche Weise ihre tief empfundene Frömmigkeit öffentlich zum Ausdruck gebracht haben.

      Der Volksmund heißt den März einen verrückten Monat: Wir wünschen von ganzem Herzen, dass er bis morgen wieder zu Verstand kommen und den Anwesenden einen heiteren Himmel bescheren möge.

    KÖNIGLICHES POLIZEIKOMMISSARIAT VIGÀTA
    An den
    Signor Questore Polizeipräsidium Montelusa
Vigàta, den 20. März 1890
Tgb.-Nr.208
Betreff: Verwarnungsermächtigung
      Am gestrigen Tage circa um zehn Uhr morgens erschien ein Bote der hiesigen Filiale der Banca di Trinacria, Piazza Grande Nr. 16, und berichtete uns verstört von einem heftigen Streit, der sich im Bureau von Antonio Patò, dem Direktor der o.g. Filiale, abgespielt hat.

      Ich begab mich augenblicklich an Ort und Stelle und fand außer Patò in dem Bureau auch den Getreidehändler Gerlando Ciaramiddaro vor, der vor Wut schäumte und noch nicht zufrieden war, dass er alle Unterlagen, die auf dem Schreibtisch des Filialdirektors lagen, auf den Boden geworfen hatte, dem es nicht genügte, dass er die Beine eines Stuhls abgebrochen hatte, der sich nicht damit beschied, mitten ins Zimmer uriniert zu haben, sondern Patò auch noch ein mit Tinte gefülltes Tintenfass ins Gesicht geschleudert hatte und sich gerade anschickte, zu noch schwereren Tätlichkeiten überzugehen.

      Ich hielt den Rasenden, der in einem fort Todesdrohungen gegen den Filialdirektor ausstieß, fest und erfuhr von Letzterem, der verständlicherweise sehr erregt war, dass der Streit entstanden sei, weil er Ciaramiddaro den Aufschub der Rückzahlung eines Darlehens in Höhe von Lit. 280 verweigert habe, das diesem vor nunmehr vierundzwanzig Monaten gewährt worden sei.
      Auf den Hinweis, die Banca di Trinacria könne sich keine weiteren Außenstände leisten, die Zahlung sei jetzt fällig, sei Ciaramiddaro aufgesprungen, habe wie ein Irrer geschrien: »Du wirst gleich sehen, wer hier fällig ist, du Scheißkerl!« und habe dann mit oben erwähntem Vandalismus begonnen.
    Nachdem ich Ciaramiddaro scharf gerügt und aus dem Bureau entfernt hatte, bat ich Patò, mir den Vorfall ausführlich darzulegen. Doch er weigerte sich hartnäckig, ging auf mein Drängen nicht ein und versicherte, es sei nicht seine Art, sich über seine Schuldner nachteilig zu äußern. In der Tat ist Antonio Patò bei den Bürgern Vigàtas wohlgelitten und beliebt, denn er gilt als Mann von großer Redlichkeit, untadeligem Benehmen und gottesfürchtiger Gesinnung.
      Nicht von ungefähr nimmt er es, meines Wissens seit vier oder fünf Jahren, auf sich, im »Passionsspiel«, das hier alljährlich aufgeführt wird, die Rolle des Judas zu spielen. Als Buße für seine Sünden bietet er dem Herrn den Hohn und Spott der Zuschauer dar, die der Figur des Verräters Christi Hass und Verachtung entgegenbringen. Was Ciaramiddaro Gerlando anbelangt: Er ist als gewalttätig und rücksichtslos bekannt, und man munkelt, dass er obendrein dem berüchtigten Mafiachef Calogero Pirrello nahe steht. Dieser ist auf freiem Fuß, weil er in dem Prozess, in
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