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Der zweite Kuss des Judas.

Der zweite Kuss des Judas.

Titel: Der zweite Kuss des Judas.
Autoren: Andrea Camilleri
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Kinder überlassen konnte, und die alte Nachbarin wollte sie nicht mitten in der Nacht wecken. Als sie schließlich an vertrauten Geräuschen hörte, dass die Nachbarin aufgestanden war, übergab sie die Kinder wieder deren Obhut und lief eilends zu mir, um mich zu wecken.
      Ich kleidete mich an und begab mich mit der Signora auf die Piazza Grande, wo sich vor der Bühne bereits der Zimmermann Vapano Cosimo und einige seiner Gehilfen eingefunden hatten, die sich anschickten, die von ihnen errichtete Bühne abzubauen. Ich forderte den Zimmermann auf, die bevorstehende Demontage zu verschieben, und begab mich, gefolgt von der Signora, in die Unterbühne.

    Das frühe Tageslicht ermöglichte es uns, jede Einzelheit der Örtlichkeit in Augenschein zu nehmen. Die Bühne, aus jenen schweren Holzplanken gebaut, die man »farlacche« nennt und die im Hafen zu je dreien zusammengefügt als Brücke zwischen dem Kai und den Schiffen dienen, ist dreißig Meter lang, zehn Meter tief und einen Meter sechsundachtzig hoch. Der vordere Teil der Bühne, der zum Publikum hin, ist von der Kante bis zum Boden mit Holzbrettern verkleidet, die dergestalt übereinander gesetzt sind, dass sie eine richtige Wand bilden und den Blick auf das Geschehen in der Unterbühne verwehren. Aber die beiden anderen Seiten und der Rückteil sind ohne einen solchen Schutz und gestatten leichten Zutritt zur Unterbühne. Aus ebendiesem Grunde wollte der Bürgermeister, dass vier Wachtmeister an den vier Ecken der Bühne stehen, denn sie sollten verhindern, dass während der Aufführung ein Kind oder ein Betrunkener die Unterbühne betritt und Störungen verursacht. Die Unterbühne erscheint wie ein richtiger Wald aus Pfählen, die die darüber liegenden Holzbohlen stützen, die ja das Gewicht von über hundert Personen tragen müssen, ganz abgesehen von den schweren Bühnenaufbauten. Die Versenkung, in der Judas verschwindet, befindet sich rechts zum Rand der Bühne hin, unter einem künstlichen Baum mit vielen Ästen. Lotrecht zur Versenkung befindet sich in der Unterbühne eine Treppe von ungewöhnlicher Form. Ich bat den Zimmermann, mir ihre Verwendung zu erklären, und er sagte, diese Treppe, die insgesamt einem großen, innen hohlen Würfel gleicht, mit Stufen auf drei Seiten und oben einer dick gepolsterten Plattform, habe er auf genaue Anweisung von Antonio Patò gebaut, der, wenn er durch die Bodenluke in die Unterbühne fiel, sich bei den Proben und Aufführungen mehrmals fast das Genick gebrochen hätte. Ich bemerkte, dass man diese Treppe letztlich auch als eine große leere Kiste ansehen konnte. Mit Hilfe des Zimmermanns deckte ich sie auf: Innen fanden wir nichts. Und von dem Filialdirektor war natürlich keine Spur zu sehen. Signora Mangiafico, die offensichtlich befürchtet hatte, in der Unterbühne ihren schwer verletzten Mann zu finden, war etwas getröstet. Bevor ich sie mit dem Versprechen, sofort mit den Nachforschungen zu beginnen, wieder nach Hause brachte, befahl ich dem Zimmermann, alles so zu lassen, wie es war, da ich die Bühne und die darunter liegende Treppe für weitere Untersuchungen brauchte. In diesem Augenblick kam, völlig außer sich, Marchese Simone Curtò di Baucina aus dem Portal des Palastes und griff mich hart an; er forderte mich auf, dem Zimmermann Vapano einen anders lautend en Befehl zu erteilen, damit die Bühne unverzüglich abgebaut werde. Er behauptete, der Anblick dieser Apparatur verursache seiner Frau Mutter, der Prinzessin Imelda Sanjust degli Orticelli, Übelkeit und Brechreiz, weshalb es ihr verwehrt sei, sich auf den Baikonen des Hauses zu zeigen, wie sie es sonst zu tun pflege. Aber ich bestätigte nur die Anweisung für den Zimmermann und entfernte mich, um die unglückliche Signora Mangiafico verheiratete Patò nach Hause zu begleiten. Daraufhin suchte ich den Buchhalter Vitantonio Tortorici auf, den Hauptkassierer der hiesigen Filiale der Banca di Trinacria, von dem ich wusste, dass er einen Zweitschlüssel zur Bank besitzt. Verständlicherweise beunruhigt, war Buchhalter Tortorici bereit zu helfen. Als wir die Bank betraten, fanden wir die Räumlichkeiten in tadelloser Ordnung vor. Ebenso das Bureau des Filialdirektors. Der Geldschrank war abgeschlossen. Auf meine Bitte, ihn in meiner Gegenwart mit dem passenden Schlüssel zu öffnen (den anderen hatte Patò bei sich), weigerte Tortorici sich, denn man benötigt eine Sonderermächtigung der Provinzialdirektion Montelusa, um einem Außenstehenden
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