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Der zerbrochene Kelch

Der zerbrochene Kelch

Titel: Der zerbrochene Kelch
Autoren: Kathinka Wantula
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Immerhin muss ich für die Ausgrabung kein eigenes Geld investieren, sondern werde für meine Arbeit noch bezahlt.«
    »Und der Ruhm? Wer erntet den?«
    Delvaux nickte. »Das ist eine gute Frage. Ich glaube, das wird sich erst noch zeigen.«
    Nachdem sie eine Stunde gefahren waren, steuerte Delvaux auf eine kleine, karge Weggabelung zu.
    »Hier sehen Sie die weltberühmte Kreuzung, an der König Ödipus der Legende nach seinen eigenen Vater erschlug. Wir biegen jetzt nach links auf den uralten Pilger-weg nach Delphi ab.«
    Karen lief eine Gänsehaut über die Arme, als sie über die Kreuzung fuhren. Es war schon viele Jahre her, dass sie die Tragödie gelesen hatte, aber es war trotzdem ein merkwürdiges Gefühl, nun an der Stelle zu sein, an der Sophokles vor über zweitausend Jahren den schicksalhaften Vater mord spielen ließ.
    »Es ist schon merkwürdig, nicht wahr?«, fragte Delvaux, ohne wirklich erstaunt zu sein. »Wenn ich an das Orakel von Delphi und an Ödipus denke, was nützen einem dann die Wahrsager? Wozu soll man sie befragen, wenn angeblich alles schon schicksalhaft festgelegt ist?«
    Er redete sich jetzt leicht in Rage und schlug missmutig mit der rechten Hand aufs Lenkrad. »Wozu das alles? Ödipus’ Eltern setzten ihren Sohn in der Wildnis aus, nachdem die Pythia aus Delphi ihnen gesagt hatte, dass er seinen Vater töten und seine Mutter heiraten würde. Aber der Junge wurde gerettet, und viele Jahre später wurde die Weissagung wahr und die gesamte Familie vernichtet. Was nützt es einem also, wenn man das Schicksal kennt, es aber nicht beeinflussen kann?«
    Karen überraschte Delvaux’ Denkweise nicht, doch aufgrund ihrer eigenen Erfahrung verstand sie Menschen, die zu Wahrsagern gingen, sehr gut. »Ich denke, dass die Menschen nun mal neugierig auf die Zukunft und auf ihr Schicksal sind, auch wenn es ihnen manchmal nichts Gutes verheißt. Sie wollen wissen, was geschieht, und vorbereitet sein. Sie meinen dann besser mit den Schicksalsschlägen umgehen zu können.«
    Delvaux schnaufte verächtlich. »Das hat Ödipus und seinen Eltern wenig gebracht. Sie konnten das Schicksal nicht verhindern und landeten alle im Unglück. Nein, so etwas will ich nicht wissen. Dann könnte ich mir ja gleich einen Strick nehmen.«
    »Aber vielleicht meint das Schicksal es doch gut mit Ihnen, Simon, und schenkt Ihnen Glück und Erfolg?«
    »Ja, möglich«, brummte Delvaux und begann etwas in der Seitenablage der Tür zu suchen, schien es aber nicht zu finden.
    »Und wenn man das vorher schon wüsste, könnte man sich schon länger darüber freuen«, spann Karen den Gedanken weiter.
    »Aber dann würde man vielleicht die Hände in den Schoß legen und sagen: Warum soll ich mich überhaupt noch anstrengen? Es ist ja doch mein Schicksal, dass ich Erfolg haben werde«, meinte Delvaux.
    Karen achtete gar nicht mehr auf die gefährliche Umgebung der attischen Berge, während sie Delvaux energisch antwortete: »Nein, man muss sich bewegen, Wege gehen und Entscheidungen treffen, jeden Tag. Ohne das geht es nicht.«
    Delvaux bog um eine scharfe Linkskurve, sodass sich der Bergabhang tief neben seiner Fahrertür öffnete.
    »Glauben Sie, dass es Ihr Schicksal war, dass Sie jetzt hier in Delphi sind?«, fragte er.
    »Ich weiß es nicht. Aber es war auf jeden Fall meine eigene Entscheidung, hierher zu kommen, und bis jetzt habe ich sie noch nicht bereut. Wenn wir allerdings noch länger diese Serpentinen fahren, weiß ich nicht, was geschehen wird.«
    Delvaux bemerkte erst jetzt ihr bleiches Gesicht und die verkrampften Hände auf ihrem Schoß. »Sie haben Probleme mit der Höhe? Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt?«
    »Na ja, das hätte doch nicht viel geändert, oder? Es gibt ja nun nicht gerade viele Alternativen, um nach Delphi zu kommen. Und im Bus oder Taxi wäre es mir genauso ergangen. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, es wird auch schon wieder besser. Allmählich gewöhne ich mich an die Aussicht. Und die Berge – einerseits faszinieren sie mich, und andererseits habe ich Angst vor ihnen.«
    Sie warf einen skeptischen Blick auf die graue Wand neben sich, die keinen halben Meter von ihr entfernt war.
    »Halten Sie durch, die Straße wird gleich wieder ein bisschen breiter. Sehen Sie dort oben die grauen Häuser und den alten Glockenturm? Das ist Arachova, berühmt für langhaarige Wollteppiche mit groben Mustern. Schrecklich hässlich meiner Meinung nach, aber dafür ist ihr Rotwein nicht schlecht.
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