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Der zerbrochene Kelch

Der zerbrochene Kelch

Titel: Der zerbrochene Kelch
Autoren: Kathinka Wantula
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noch etwas essen, bevor wir nach Delphi fahren?« Er deutete auf das Flughafenrestaurant, an dem sie gerade vorbeigingen. »Es wird eine lange Tour durch die Berge, zirka anderthalb Stunden.«
    Doch Karen schüttelte den Kopf. Sie hatte nicht die geringste Lust, sich jetzt in ein überfülltes und überteuertes Restaurant mit vielen lärmenden Leuten zu setzen.
    »Nein, danke«, erwiderte sie deswegen. »Ich möchte so schnell wie möglich aus Athen verschwinden.«
    Delvaux nickte. »Das ist verständlich. Kein Problem. Mein Wagen steht dort drüben.«
    Er deutete auf einen verrosteten sandfarbenen Opel Accord, an dessen linkem Kotflügel eine breite Beule und Kratzer zu sehen waren und dessen Reifen kaum noch Profil hatten.
    Karen traute ihren Augen nicht. Dieser Wagen hätte in Deutschland schon vor sechs Jahren keine TÜV-Zulassung mehr bekommen. »Mit … mit diesem Wagen fahren Sie durch die Berge?«
    Delvaux schmunzelte, als er die verbogene Kofferraumhaube aufmachte und Karens Trolley verstaute. »Vertrauen Sie mir, ich bin ein guter Fahrer«, erklärte er in einem beruhigenden Ton und öffnete für Karen die Beifahrertür. »Ein Taxi oder ein Bus wäre auch nicht viel sicherer, glauben Sie mir.«
    Sie stiegen in den Wagen, und tatsächlich kam Karen trotz des guerillaähnlichen Verkehrschaos in Athen und später auf der schmalen Straße entlang den Bergfelsen mit ihren Ängsten und Bedenken gut zurecht. Wahrscheinlich lag es auch an dem intensiven Gespräch mit Delvaux, der ihre Aufmerksamkeit mit sehr viel Umsicht von den gefährlichen Serpentinen auf seine Person und die Ausgrabung in Delphi lenkte.
    »Warum sind Sie Archäologe geworden?«, fragte sie, während Delvaux’ auffälliger Silberring mit Mäandermuster an seinem rechten Zeigefinger sie irritierte und ab und zu blendete. Was hatte ein Ring am Zeigefinger noch mal charakterlich für eine Bedeutung? Sie hatte zu Hause mehrere Bücher über Chiromantie und Psychologie, die die charakterliche Bedeutung eines Rings am Zeigefinger beschrieben, doch im Augenblick fiel sie ihr nicht ein. Sie wusste nur noch, dass es etwas im Wesen des Ringträgers betonte. Aber was?
    »Ich mag eben gern zuschauen, wenn andere im Staub herumkriechen. Nein, im Ernst, es ist meistens ein schrecklich langweiliger Job. Zwar können ein einziger Moment und ein einziger Fund das ganze Leben verändern, aber darauf warten die meisten Archäologen vergebens. Trotzdem haben wir mit unserem Brunnenbecken vielleicht ein bisschen Glück gehabt«, erklärte Delvaux beiläufig mit gewollter Untertreibung, was Karen sofort merkte und sie hellhörig werden ließ.
    »Wie meinen Sie das?«
    »Verrate ich noch nicht.«
    Karen musste über Delvaux’ Art schmunzeln. Er war vermutlich drei, vier Jahre jünger als sie, vielleicht sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig, sah gut aus, aber er wusste auch, wie er sich interessant machen konnte.
    »Und bitte nennen Sie mich Simon. ›Monsieur Delvaux‹ ist so umständlich. In Delphi nennen mich alle nur Simon.« Er beschleunigte den Wagen und überholte einen Viehtransporter. »Übrigens würde es diese Ausgrabung ohne mich wahrscheinlich gar nicht geben.«
    Karen ließ möglichst unauffällig den Türgriff los, der während des Überholmanövers einige Fingernagelabdrücke mehr in seinem Kunststoff bekommen hatte, und wischte sich die feuchten Hände an der Hose ab.
    »Wieso das?«
    Delvaux kannte Karens Probleme mit der Höhenangst in den Bergen nicht und bemerkte auch nicht die Nervosität, mit der sie einige Male die Augen schloss, wenn wieder eine Serpentine ohne Leitplanke kam. Stattdessen genoss er ihre Neugier und ihre Aufmerksamkeit.
    »Die Ausgrabung wird nur deswegen gemacht, weil ich die Unterlagen meines Ururgroßvaters gefunden habe, der 1892 bei den ersten Ausgrabungen in Delphi dabei war und von diesem verschütteten Brunnenbecken berichtete. Natürlich musste diesmal auch die griechische Behörde ihre Erlaubnis geben, und schon ließ die École Française de Archéologique es sich nicht nehmen – im besten Einvernehmen mit den Griechen, versteht sich –, erneut in Delphi zu buddeln. Freundlicherweise gaben sie mir die Ehre, daran teilzunehmen, nachdem ich mich damit einverstanden erklären musste, meine Unterlagen den Wissenschaftlern zur Verfügung zu stellen.«
    Karens Augen wurden groß.
    »Wie bitte? Das hört sich aber irgendwie nach Erpressung an.«
    »Nein, war es nicht. Es war eher ein gegenseitiges Einverständnis.
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