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Der Weg nach Xanadu

Der Weg nach Xanadu

Titel: Der Weg nach Xanadu
Autoren: Wilfried Steiner
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noch den Teller mit der Cremeschnitte. Ich
stellte ihn hinter mich. Versuchte, den Bauch ein wenig einzuziehen. Anna hielt
die Zigarette in der linken Hand; der linke Oberschenkel diente dem Ellbogen
als Stütze. Bei jedem Zug bewegte sie den Kopf zum Filter hin, als wäre ihre Hand
in Starrkrampf gefallen, unfähig zu jeder Bewegung, lebendig begraben in der
Luft. In einer dünnen Linie stieg der Rauch von der Zigarette auf. Die Glut
hing an einem an der Zimmerdecke befestigten blauen Faden, eine winzige rote
Marionette.
    Es wurde langsam Zeit, das Heft
in die Hand zu nehmen. Reden, Alter, nicht glotzen.
    »Ich habe im Augenblick wenig
Zeit«, mit Blick auf sie, »ich muß zwei Gastvorträge vorbereiten, über Blake in
Bristol und über Poe in Princeton« (mein Gott, wann hatte ich mich zuletzt
bemüßigt gefühlt, so anzugeben. Halb gelogen war es auch noch: der Vortrag über
Poe war schon fertig; außerdem war er natürlich nicht für Princeton, sondern
für Graz), »aber«, jetzt zu ihm gewandt, »Ihre Thesen scheinen mir interessant
zu sein.« Oberwasser für Jüngelchen, verdammt, sagte ich mir, diese Kröte mußt
du schlucken. »Geben Sie mir ein paar Tage Bedenkzeit, dann reden wir weiter.«
    Er sprang auf, drückte meine
Hand. Wenn ich einen Ring getragen hätte, wäre der wohl von ihm geküßt worden.
Über die Schultern ihres Liebsten hinweg schaute ich Anna ins Gesicht. »Danke«,
machte sie lautlos mit den Lippen; Jüngelchen konnte es nicht hören, aber ich
konnte es sehen. Neid überzog meine Zunge mit einem grünen Pelz. Das häßliche
Grün, Moi. Und das schöne Grün, Madame.
    Wir vereinbarten einen Termin,
diesmal zu meinen Sprechstundenzeiten. Es war mir klar, daß er das nächste Mal
allein kommen würde. Was für eine Lage: daß ich sein Thema akzeptierte, war
nicht genug. Ich mußte mich mit ihm anfreunden, um sie nicht zu
verlieren.
    Ich stand auf und
verabschiedete mich von beiden mit Händedruck. Als Annas Hand in der meinen
lag, strahlten ihre Augen mich an, weil ich dem Wunsch ihres Geliebten
entsprochen hatte. »Darum, und nur darum«, sang mein innerer Exorzist, mein
Engelsaustreiber im Frondienst dieser Religion, die ich gelernt hatte,
Realismus zu nennen. Alle Willensanstrengung, über die ich verfügte, mußte ich
aufbringen, um ihre Hand wieder loszulassen.
    Tiger Tiger burning bright, hallte es in meinem Schädel nach,
als die Tür ins Schloß fiel, in the Forest of the Night. Es war für
lange Zeit das letzte Echo von William Blake. Mein Gott, ich mußte sie einfach
wiedersehen, ihr zeigen, daß eine schöne Seele wohnte in diesem häßlichen Haus.
Den leuchtenden Apfel, um den dieser Speck gewickelt war.
    Der Vortrag über Poe, bereits
ausgedruckt und schön gebunden, sollte in meinem Regal verenden, lebendig
eingemauert zwischen all den nutzlosen Büchern. Das Leben war woanders.
    Das Gespenst Coleridge lachte
mich an, es stand schon im Flur wie jetzt meine Koffer. Bereit für die
Reise.

Neun »Coleridge, Samuel Taylor, *
1772 in Ottery St. Mary, Devonshire, † 1834 in Highgate. Engl. Dichter. Student in
Cambridge, gab wegen seiner radikalen Gesinnung (sympathisierte mit den Ideen
der franz. Revolution) 1793 sein Studium auf. Schon im nächsten Jahr erscheint
sein Drama ›The Fall of Robespierre‹. Sein Plan, in Amerika eine kommunistische
Kolonie zu gründen, scheiterte. Nach seiner Rückkehr bringt die Freundschaft
mit Wordsworth, ihre gemeinsame Deutschlandreise 1798/99 und die Mitarbeit an
den ›Lyrical Ballads‹, 1798, eine Wendung C’s politischer Gesinnung: Er wird —
enttäuscht von dem Verlauf der franz. Revolution — Konservativer und wendet
sich einer romantischen Dichtung zu. Mit einigen Freunden (Wordsworth, de
Quinceys (sic!) u.a.) begründet er den Kreis der Fake Poets. Ihre
Dichtungen befassen sich vorwiegend mit Naturschilderungen aus dem engl. Fake
District. Sein Plan, ein Werk zu schreiben, das alles Wissen in harmonische Verbindung
bringen sollte, scheiterte. Bedrückt durch die Not seiner Tage ergab er sich
dem Genuß des Opiums und zerstörte damit seine Gesundheit. Er gilt bis heute
als das große Genie der engl. Romantik.«
     
    Kurt Blaschek, Lexikon
der ‘Weltliteratur , Frankfurt 1955.
     
     
    »So hatte Samuel Taylor
Coleridge klar gesehen. So hatte er gesehen, daß der Priester, der Initiierte,
der Guru, der Diener, mit der Beihilfe des Arztes im Glasschrank, des Yogis
hinter seinem Wandschirm, nicht aufhörten, heimlich das wahre Herz
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