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Der Weg nach Xanadu

Der Weg nach Xanadu

Titel: Der Weg nach Xanadu
Autoren: Wilfried Steiner
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des
leidenden Dichters zu geißeln, um dem Schleim des Blutes ein Ende zu machen.
Was hat angesichts all dessen Samuel Taylor Coleridge getan ?
    Er hat den Schleim, den man ihm
wegnahm, in Opium verwandelt, und er hat bis zu seinem Tode Laudanum genommen.
    Und unter dem Deckmantel des
Opiums hat er Gedichtmusiken geschrieben.
    Er ließ ein Schiff und ein
Verbrechen abdriften. Das Schiff im Eis des Pols unter der Sonne eines
nachgeborenen Verbrechens.
    Denn das Merkwürdige an der Ballade
des Alten Seemanns ist dieses Verbrechen, das durch nichts erklärt werden
könnte... Ich glaube, daß Samuel Taylor Coleridge schwach war, und daß er Angst
hatte, und vielleicht hat Samuel Taylor Coleridge auch erkannt, was er in
Wirklichkeit war.«
     
    Antonin Artaud,
Paris, 17. November 1946

Zehn Anna Polaroid:
    Im Türrahmen stehend, eine Hand
am Türstock, die andere auf der Klinke, Oberkörper und Kopf nach vorne geneigt,
die Füße in leichter Schrittstellung, eine Langstreckenläuferin am Start. Circa
einsfünfundsiebzig, schmal, überdurchschnittlich lange Arme. Blauschwarze,
kurzgeschnittene Haare, helle Gesichtshaut, Augen grün. Blaue, ausgewaschene
Jeans, schwarze Stiefel, eine Cordjacke, neu oder selten getragen, darunter ein
weißes T-Shirt mit Aufschrift, teilweise von der Jacke verdeckt, lesbar nur
»HI« (erste Zeile) und »PPE« (zweite Zeile).
     
    Anna durch die Hirnkamera:
    Eine Flammensäule in Blau und
Weiß, oben und unten Reste von Kohle.
    Eine senkrechte Brandung, von
Lavagestein begrenzt.
    (Nach einem Zoom:) Augen wie
ein heidnischer Zwillingsaltar, aus Jade geschnitzte Torsi von Astarte und
Kybele, zum Niederknien; zwei Eisblöcke, floating by, as green as emerald, inmitten
einer unentrinnbar windstillen Antarktis; Sacco und Vancetti in einem riesigen
weißgetünchten Gerichtssaal, verkleidet als Robin Hood Eins und Robin Hood
Zwei. Darüber: Gebogene Nadeln aus Obsidian; ein Nest voller Mamba-Babys.
    Die Strahlen einer Indigosonne
brechen sich auf einem dicht mit schwarzen Rosen bewachsenen Hügel.
     
    Man könnte auch sagen: Ich war
beeindruckt.

Elf Was mir bei der nun unvermeidbar gewordenen Beschäftigung mit der Biographie
von Coleridge als erstes auffiel, ist die erstaunliche, von mir bisher
ignorierte Tatsache, daß er all seine großen Gedichte, darunter Kubla Khan und The Rime of the Ancient Mariner, binnen eines einzigen Jahres
schrieb, und zwar zwischen Oktober 1797 und September 1798. Und das, obwohl er
ja die romantische Sitte des Frühversterbens nicht mitgemacht und bis zu seinem
Tod im Alter von zweiundsechzig Jahren Gedichte verfaßt hatte. Aber weder vor
noch nach dieser fruchtbaren Zeitspanne, die von seinen Exegeten gerne »annus
mirabilis« genannt wird und sie zu den verschiedensten Spekulationen und
Selbstdarstellungen verleitet hat, war er in der Lage, die poetische
Strahlkraft jener Dichtungen wieder zu erreichen.
    Die einzige Ausnahme bildet die
Ode Dejection 2 aus dem Jahr 1802. Thema dieses Gedichtes ist die Klage über das Versiegen
seiner Inspirationsquellen, über das Erlahmen seiner Schaffenskraft, oder wie
all diese Formeln heißen mögen, die jene Verzweiflung zu benennen versuchen,
die einen befällt, wenn das Blatt leer bleibt oder sich nur mit hohlklingenden
Sätzen füllt.
     
    Im Januar 1797 bezog Coleridge mit
seiner Frau Sarah und Sohn Hartley das Lime Street Cottage in Nether Stowey,
eine bescheidene Unterkunft mit vier Zimmern, die sein Freund Thomas Poole der
Familie vermittelt hatte. Der winzige Garten grenzte an die weitläufige
Obstgartenanlage von Pooles stattlichem Haus, ein Umstand, der Coleridge ebenso
zu diesem Umzug veranlaßt hatte wie die Vorstellung, die geliebte Landschaft
der Quantock Hills vor der Haustür zu haben. Hier sollten sie für die nächsten
drei Jahre bleiben, Schweine, Gänse und Enten halten, den Garten bebauen —
Rückzug hieß die Devise. Coleridge tat alles, um den mißtrauischen Dörflern den
Eindruck eines naturverbundenen, harmlosen jungen Mannes zu vermitteln. Er
wurde Mitglied des örtlichen Gesangsvereins, nahm an Pooles Vorlesezirkeln
teil, brachte die selbstgemachten Kuchen zum Bäcker — es gab keinen Ofen im
Cottage — , fütterte die Schweine.
    Alles, was ich über seine
Bemühungen in dieser Zeit las, erinnerte mich an Hölderlins Ausruf »ich will
kein Jakobiner mehr sein«. Der Leumund, ein hitzköpfiger, flammenzüngiger
Befürworter der Französischen Revolution zu sein, war Coleridge von Bristol
nach Stowey
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