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Der Weg nach Xanadu

Der Weg nach Xanadu

Titel: Der Weg nach Xanadu
Autoren: Wilfried Steiner
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Romantik stieß. Ich hatte die Matura mit
einiger Verspätung hinter mich gebracht und war als Revolutionstourist
unterwegs, um an Ort und Stelle die Aktivitäten meiner zukünftigen Kollegen zu
beobachten. Die Tatsache, daß ich mich zu diesem Zweck — von den Eltern für
meinen Abschluß belohnt — in ein recht komfortables Hotel am Kudamm
einquartierte, betrachtete ich eher als eine Art Nebenwiderspruch. Als
Bürgersöhnchen mit poetischen Ambitionen trieb ich mich tagsüber am Rande von
Demonstrationen herum, während ich gegen Abend die Buchhandlungen und
Antiquariate auf der Suche nach Raritäten durchstöberte. So war ich denn auch
mächtig stolz auf meine zwei Tage zuvor entdeckte Leipziger Ausgabe von
Gottfried August Bürgers Balladen aus dem Jahr 1880, ein wunderbar
abgegriffenes rotes Bändchen mit verschnörkelten Goldlettern auf dem Einband.
    Die Gedichte der Englischen
Romantik waren nun nicht gerade eine bibliophile Sensation: eine Ausgabe
aus den fünfziger Jahren, mit einer geschmacklos kolorierten Darstellung
dessen, was sich die deutschen Herausgeber wohl unter einer romantischen
englischen Landschaft vorgestellt haben mußten. Daß die Übersetzungen mit ihrem
krampfhaften Endreimgebastel und den vorangestellten Genitiven (the Pains of
Sleep werden da, eh man sich’s versieht, zu des Schlafes Schmerzen) jedem poetischen Empfinden zuwiderliefen, erkannte ich schon damals. Aber auf
den linken Seiten waren ja die Originale abgedruckt, und so entschloß ich mich
doch, den Band mitzunehmen, was hieß, ihn unter meine Jacke zu stecken und die
Buchhandlung zügig zu verlassen. Bücher zu kaufen kam mir damals irgendwie
spießig vor, da doch die Poesie ein Allgemeingut der Massen etcetera, und so
empfand ich meine kleinen Diebstähle immer als bescheidenen, aber mir
angemessenen Beitrag zur Unterwanderung des Systems.
    Abends stürzte ich mich auf
Shelleys Queen Mab, hatte ich doch gelesen, daß Marx höchstselbst dieses
Gedicht wegen der darin entworfenen Gesellschaftsutopien gepriesen hatte — kam
aber trotz dieser gewichtigen Empfehlung mit der Lektüre nicht recht voran. Ich
blätterte weiter, blieb da und dort ein wenig hängen — und stieß plötzlich auf
diese Strophe:
     
    Day after day, day
after day,
    We stuck, nor breath
nor motion;
    As idle as a painted ship
    Upon
a painted ocean.
     
    Tag für Tag und Tag für Tag
    Lagen wir fest, kein Hauch und
keine Bewegung;
    Träge
wie ein gemaltes Schiff
    Auf
einem gemalten Meer.
     
    Es war, als entzünde man ein
Streichholz; mehrmals ratscht der Schwefelkopf die Zündfläche entlang, im
Rhythmus dieser Zeilen — und aus dem Nichts züngelt die Flamme auf.
    Ich sah dieses Schiff vor mir,
mit hängenden Segeln inmitten eines wellenlosen Ozeans — dann fuhr die
imaginäre Kamera zurück und zeigte mir den Bilderrahmen. Die Szene verlor ihre
Raumtiefe, schnurrte zusammen auf eine Fläche, als hielte man sich beim
Betrachten einer Landschaft ein Auge zu. Die Strophe war Teil einer langen
Ballade über die wundersame Reise eines Seemanns von der Küste Englands zum
Südpol, zum Äquator und wieder zurück; sie war voll von Bildern und Klängen,
Geräuschen und Visionen. Während die Gegenstände in meinem Zimmer allmählich
aus meinem Blickfeld rutschten, das Ticken des Weckers leiser und leiser wurde,
hörte ich das Grollen und Krachen masthoher Eisschollen im antarktischen Meer,
das Bellen der Segel im Äquatorsturm und sah den Mond und die Sonne in ständig
wechselnden Farben und Formen aus dem Ozean tauchen und wieder darin versinken.
    Als ich als Kind vor den Maximen
einer ordentlichen Erziehung in die Welt der griechischen Götter- und
Heldensagen geflüchtet war, war es mir immer wieder zuteil geworden, dieses
Erlebnis, von dem so viele Phantasiegeschichten berichten: Eine Tür öffnet sich
in einem Buch, und man kann hindurchgehen in ein anderes Leben — und wenn nötig
die Tür auch wieder hinter sich zuknallen. Unerreichbar sein in einer Zone, in
der die Außenwelt keinen Zutritt hat — zumindest nicht bis zum nächsten Mittag-
oder Abendessen. Es war, als klebte auf meiner Schwab-Ausgabe ein Bild von
Vater und Mutter mit der Aufschrift: Wir müssen leider draußen bleiben.
    Doch der Druck der Elternwelt
wuchs, die Strategien dagegen wurden rationaler; Lateinschularbeiten und erste
Liebesversuche verdrängten Skylla und Charybdis — und irgendwann war mir jene
Tür vor der Nase zugeflogen, für immer, wie ich dachte.
    Doch all das fiel
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