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Der Weg nach Xanadu

Der Weg nach Xanadu

Titel: Der Weg nach Xanadu
Autoren: Wilfried Steiner
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Sonne ruhte fast schon auf den Wellen, als diese Erscheinung vor
ihr auftauchte. Sofort wurde die Sonne von Streifen durchzogen, als starrte sie
mit breitem brennenden Gesicht durch ein Kerkergitter. Die Segel glänzten im
Abendlicht wie flatternde Spinnweben. An Bord des Skelettschiffs waren nur zwei
Gestalten: Der Tod — und eine Frau mit roten Lippen und goldgelben Locken, mit
einer Haut, weiß wie Aussatz. Die Frau war die Nachtmahr Leben-im-Tod, die
Menschenblut gefrieren läßt.
    Tod und Leben-im-Tod begannen
ein grausames Spiel: sie würfelten um die Mannschaft. Leben-im-Tod pfiff
dreimal, als die Würfel gefallen waren: sie hatte den Seemann gewonnen.
    Der Rand der Sonne tauchte
unter, die Sterne brachen hervor; keine Dämmerung, mit einem Schlag wurde es
dunkel. Das Geisterschiff schoß übers Meer davon.
    Die Seeleute horchten in die
Nacht. Die Angst trank das Lebensblut aus den Herzen wie aus einer Tasse. Das
Gesicht des Steuermanns bei seiner Lampe schimmerte weiß. Von den Segeln
tropfte der Tau — bis das Horn des Mondes über dem östlichen Horizont aufstieg,
mit einem hellen Stern an der unteren Spitze.
    Ohne einen Laut, im Schein des
Mondes, dem der Stern folgte wie ein Hund, wandten die Seeleute, einer nach dem
anderen, dem Seemann ihre schmerzverzerrten Gesichter zu und verfluchten ihn
mit ihren Augen, ehe sie, zweihundert lebende Menschen, wie leblose Klumpen mit
dumpfen Schlägen niederfielen, einer nach dem anderen. Die Seelen flohen aus
ihren Leibern, und jede Seele schwirrte am Seemann vorüber, zischend wie der
Bolzen seiner Armbrust.
    Der Seemann war nun völlig
allein auf dem Schiff, allein auf dem endlosen Ozean. Auf der faulenden
Wasseroberfläche krochen Tausende schleimige Kreaturen umher; an Deck lagen die
Leichen der Seeleute. Der kalte Schweiß schmolz von ihren Gliedern, doch sie
verwesten nicht; unverändert starrten sie den Seemann an, mit jenem Blick, den
sie ihm in der Stunde ihres Todes zugeworfen hatten und mit dem sie ihn
verflucht hatten.
    Der wandernde Mond stieg am
Himmel empor, sanft zog er seine Bahn, begleitet von ein oder zwei Sternen.
Seine Strahlen spotteten der schwülen See und breiteten sich aus wie Rauhreif
im April, doch wo der gewaltige Schatten des Schiffes lag, brannte das verhexte
Wasser in stillem und grauenhaftem Rot.
    Der Seemann beobachtete die
Wasserschlangen jenseits des Schiffsschattens: Sie bewegten sich in Rinnen von
leuchtendem Weiß, und wenn sie sich aufbäumten, fiel das gespenstische Licht in
weißen Flocken herab. Im Schatten des Schiffes sah er ihre reichen Farben:
Blau, glänzend grün und samtig schwarz schlängelten sie sich, und jede Spur war
ein Aufflammen von goldenem Feuer.
    Überwältigt von der Schönheit
dieser Kreaturen, begann der Seemann, sie zu preisen; in diesem Moment brach
der Bann, der Albatros fiel von seinem Hals und sank wie Blei ins Meer hinab.
     
    Der Seemann fiel in tiefen
Schlaf und träumte, die nutzlosen Eimer auf dem Deck wären mit Tau gefüllt; als
er erwachte, regnete es. Im Traum hatte er endlich getrunken, und nun trank
sein Körper immer noch.
    Plötzlich brach in der Höhe
Leben aus: hundert glänzende Feuerflaggen wirbelten im Sturmwind, und
dazwischen tanzten die blassen Sterne. Aus einer einzigen schwarzen Wolke
strömte der Regen herab. An ihrem Rand stand der Mond, Blitze fielen ohne
Zacken nieder wie Wassermassen, die von einem Felsen herunterschießen.
    Unter den Blitzen und dem Mond
stöhnten die Toten auf. Sie bewegten sich, sie erhoben sich, doch sie sprachen
nicht. Der Steuermann lenkte das Schiff, die toten Seeleute nahmen ihre Arbeit
an den Tauen auf, ihre Glieder bewegend wie leblose Werkzeuge. Eine ganze Nacht
lang arbeiteten sie; erst bei Tagesanbruch ließen sie die Arme sinken. Aus
ihren Mündern stiegen langsam wunderbare Klänge auf, umkreisten den Mast und
flogen fort zur Sonne. Ein Orchester von Vogelstimmen erfüllte die Luft, bis
gegen Mittag rauschten die Segel, das Schiff bewegte sich ruhig fort, obwohl
sich kein Lüftchen regte. Unter dem Kiel, neun Faden tief, trieb der Geist aus
dem Land des Nebels und des Schnees das Schiff voran.
    Zu Mittag verstummte das
Rauschen der Segel, das Schiff stand still — aber nur für einen Moment. Dann
bäumte es sich auf wie ein erschrecktes Pferd, ein mächtiger Ruck, der dem
Seemann das Blut in den Kopf schießen ließ. Ohnmächtig sank er nieder, während
die Dämonengefährten des Polargeistes das Schiff schneller nach Norden trieben,
als
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