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Der Weg nach Xanadu

Der Weg nach Xanadu

Titel: Der Weg nach Xanadu
Autoren: Wilfried Steiner
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ich,
»Cerridwen?« Der Wahnsinn kroch mir den Nacken herauf.
    »Nenn mich«, sagte Anna, »wie
du willst. Du hast einen Tag und eine Nacht Zeit, dich zu entscheiden.« In
einem Anfall von Verzweiflung stieß ich sie weg, »verschwinde, Alptraum«,
schrie ich, »laß mich aufwachen!«
    »Du weißt sehr genau, daß du
nicht träumst. Xanadu erwartet dich. Für ein Jahr, auf den Tag genau. Wenn du
nein sagst, werde ich für immer aus deinem Leben verschwinden. Ich warte auf
dich. Morgen.« Sie drehte sich um und ging.
    Ich lehnte mich gegen eine der
Wände, keuchte, die Luft wollte nicht in meine Lungen hinein. War das die
Antwort auf all meine Fragen: ein Luftgebilde, eine Fata Morgana, die sprechen
konnte? In welcher Tasche waren meine Zigaretten?
    Mit dem Rauch kehrte auch der
Sauerstoff zurück.
    Beim Hochgehen wurde der
Schrecken allmählich abgelöst von einer bizarren Heiterkeit. Durchgedreht,
sagte ich laut, meschugge, Delirium tremens mit einer weißen Göttin statt mit
weißen Mäusen, how sophisticated.
    Jetzt, da ich wieder in meinem
Zimmer sitze, hat sich die Heiterkeit zur Euphorie gesteigert. Ein Fieber rast
mir durch den Kopf, die Zeilen, die ich versuche zu Papier zu bringen,
verschwimmen, der Raum pulsiert, so fühlt es sich also an, verrückt zu sein.
Dort unten war Anna, das heißt, dort unten habe ich Anna gesehen, was für eine
lebensechte Halluzination. Irgendwie strahlender, klarer als die Realität. Ein
luzides Trugbild, reingewaschen vom Staub der Wirklichkeit. Der Kater kam eben
hereingeschlichen, hallo, rief ich, ich hab endlich einen Namen für dich, ab
heute heißt du Scardanelli. Er machte einen Buckel, fauchte und schoß aus der
Tür. War nicht an Wahnsinnige gewöhnt, das arme Tier.
    Ich werde jetzt in kleinen
Schlucken eine Flasche St. Emilion aus Hendersons Keller trinken. Zigaretten
rauchen. Dann schlafen. Morgen werde ich unten sein und wieder mit meiner
Vision sprechen. Ja, werde ich sagen, ich nehme dein Angebot an, ein Jahr lang
möchte ich mit dir sein, unter dem grünen Firmament des mighty pleasure
dome, es kann mir ja nichts passieren, ich träume ja nur, und wenn ich
aufwache, werde ich in meinem Wiener Bett liegen, und vielleicht ist dann ja
ein Jahr vergangen.
    Ja, werde ich sagen, Anna,
Cerridwen, Geraldine, ja ich will, du kannst die weißen Pferde schon satteln.
Oder die Hunde mit den roten Ohren, was weiß ich.
    So leicht, wie mir zumute ist,
kann mich selbst eine Krähe tragen.
    Genug geschrieben für heute.

Verwendete
Literatur (u.a.): Patricia M. Adair: The Waking Dream. A Study of Coleridge’s
Poetry. London: Edward Arnold 1967.
    Antonin
Artaud: Van Gogh, der Selbstmörder durch die Gesellschaft und Texte über
Baudelaire, Coleridge, Lautréamont und Gérard de Nerval. Übersetzt von Franz
Loechler. München: Matthes & Seitz 1977. S. 34 f.: Abdruck mit
freundlicher Genehmigung des Verlags Matthes & Seitz.
    Kurt Blaschek:
Lexikon der Weltliteratur. Frankfurt am Main. Humboldt Verlag 1955.
    Jorge Luis
Borges: Buch der Träume. Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag,
Frankfurt am Main. © Carl Hanser Verlag München Wien 1994. S. 90-94: Abdruck
mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlags.
    A. S. Byatt:
Unruly Times. Wordsworth and Coleridge in Their Time. London: The Hogarth Press
1989.
    Bruce Chatwin:
In Patagonia. London: Jonathan Cape, 1977.
    Kathleen
Coburn (Hg.): The Notebooks of Samuel Taylor Coleridge. Princeton: Princeton
University Press 1957.
    Samuel Taylor
Coleridge: Complete Poetical Works and Notebooks. Oxford 1912.
    Samuel Taylor
Coleridge: Gedichte. Übersetzt von Edgar Mertner. Stuttgart: Reclam 1973.
Abdruck der zitierten Verszeilen mit freundlicher Genehmigung des Verlags
Philipp Reclam jun. Stuttgart.
    Heide
Göttner-Abendroth: Die Göttin und ihr Heros. München: Frauenoffensive 1980.
    Robert Graves: The White Goddess.
London: Faber & Faber 1961. Richard Holmes: Coleridge. Early Visions.
London: Penguin 1990. Richard Holmes: Later Reflections. London: Harper
& Collins 1998-Ted Hughes: The Snake in the Oak. In: Hughes (Hg.): A
Choice of Coleridge’s Verse. London: Faber & Faber 1996.
    Kathleen
Jones: A Passionate Sisterhood. London: Virago 1997.
    John
Livingston Lowes: The Road to Xanadu. 1927; Picador 1978.
    W. G. Sebald:
Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt: © Eichhorn AG, Frankfurt am
Main 1995. S. 57: Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Eichhorn AG.
    Stevie Smith:
Thoughts on the Person from Porlock. In:
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