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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
Autoren: Stefanie Zweig
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1
Ein Sonntag wie kein anderer
September 1948
    »Unser erster Sonntag daheim«, sagte Betsy Sternberg. »Gibt’s dafür ein Gebet, Fritz?«
    »Bestimmt«, mutmaßte ihr Schwiegersohn. »Oder glaubst du, Moses hat sich nach vierzig Jahren Wüstenwanderung und dem ganzen Zores mit den Kindern Israels und dem Goldenen Kalb schweigend über den Honigtopf im Gelobten Land hergemacht?«
    »Moses hat das Gelobte Land doch nie erreicht«, erinnerte ihn seine Tochter. »Ich war außer mir, als ich davon erfuhr.«
    »Stimmt, Moses durfte sein Paradies nur aus der Ferne sehen. Aber uns hat Gott zurückgeführt«, entschied Betsy. Sie strich die blauweiß karierte Tischdecke glatt, die Anna, ihre geliebte Ziehtochter, zur Wiedereinweihung der alten Wohnung im eigenen Haus aus Küchenhandtüchern und Kissenbezügen genäht hatte. »Wenn mir einer gesagt hätte, ich würde wieder hier sitzen, mit meinem Schwiegersohn und meiner Enkeltochter Fanny über das Gelobte Land reden, echten Bohnenkaffee trinken und zum Fenster rausschauen und unseren alten Kirschbaum sehen, ich hätte kein Wort geglaubt. Betsy Sternberg schaut zu keinem Fenster mehr raus, hätte ich gesagt. Sie ist auf dem Transport in ihr zweites Leben gestorben. Ob Orpheus auch so durcheinander war wie ich, als er aus der Unterwelt zurückkehrte? Und was hat Odysseus gesagt, als er nach zwanzig Jahren wieder vor seiner Penelope stand?«
    »Wer hat von meinem Tellerchen gegessen?«, fabulierte Fanny. »Quatsch, das waren ja Schneewittchens Zwerge.«
    »Bist ein ganz Braver, hat er gesagt«, lächelte Fritz. »Papi hat dir einen großen Kalbsknochen mitgebracht. Wenn sich ein Ehemann mit einem schlechten Gewissen zu seinem Hund herabbeugen kann, ist das schon die halbe Miete. Um den Hund hab’ ich Odysseus immer beneidet.«
    »Ihr hattet doch nie einen Hund«, wunderte sich Betsy.
    »Stimmt. Aber ich hab ihm trotzdem alles erzählt, bei der kleinsten Schwindelei hat er mit dem Schwanz gewackelt.«
    »Deine Fantasie möchte ich haben.«
    »Ich auch. Ich habe immer gefunden, Fantasie ist der zuverlässigste Fluchthelfer. Als ich mir heute beim Rasieren im Spiegel begegnete, brauchte ich allerdings keine Fantasie. Nur ein gutes Gedächtnis für das, was mich in meinem ersten Leben bewegt hat. Ich kam mir nämlich wie Rip van Winkle vor. Der entstammt einer Kurzgeschichte des Amerikaners Washington Irving und ist ein Bauer mit schlichtem Gemüt und einem Hang zur Flasche. Zur englischen Kolonialzeit gönnt er sich in seinem heimatlichen Bergdorf eine Mütze Schlaf und wacht erst nach zwanzig Jahren wieder auf. Da ist er Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika, hat einen ellenlangen, eisgrauen Bart und versteht die Welt nicht mehr. Sein zänkisches Weib, das ihm das Leben zur Hölle gemacht hat, ist gestorben. Alle Leute und sämtliche Hunde, die er gekannt hat, sind ebenfalls verschwunden. Der arme Tropf gerät vollkommen in Panik. Zu allem Übel sagt er auch noch ›Gott segne den König‹. Da halten ihn sämtliche Dorfbewohner für einen Verräter und beschuldigen ihn der Spionage.«
    »So ging es lange in meinen Albträumen zu«, seufzte Fanny.
    »Wem erzählst du das! Als ich in Holland untergetaucht war und keiner wissen durfte, dass ich jüdisch und aus Deutschland war, hatte ich immer Angst, man würde mich als Spion verhaften. Wie oft habe ich mir vorgestellt, ich liege mit hohem Fieber im Krankenhaus und rede im Delirium Deutsch, und die Krankenschwestern holen die SS. Oder ich spreche ein hebräisches Gebet. Wie ich mich kenne, bestimmt das falsche. Mutter hat sich ständig geärgert, dass ich den Segensspruch für das Brot mit dem für den Wein verwechselt habe. Noch als Achtjähriger. Und zu den hohen Feiertagen.«
    Betsy strich Fritz über den Kopf. Es war eine leichte, flüchtige Geste. »Verzeihung«, sagte sie, denn sie hatte sich angewöhnt, bei ihrem Schwiegersohn Mütterlichkeit und Mitgefühl als versehentliche Berührungen zu tarnen. »Ich habe auch dauernd das Gefühl, dass ich in die falsche Zeit geraten bin. Vorhin habe ich mir einen Moment vorgestellt, ich müsste für Tante Jettchens Papagei die Weißbrotbrocken schneiden. Die hat er sonntags immer bekommen, wenn er lange genug ›Franzbrot und Rotwein‹ krächzte. Die Kinder konnten sich nicht satt hören, und Johann Isidor hat jedes Mal gedroht: ›Das Viech kommt in die Pfanne.‹ Tantchen war zu Tode beleidigt. Nur Vicky konnte sie trösten. Sie war ja Jettchens Liebling.«
    »Schade,
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