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Der Weg nach Xanadu

Der Weg nach Xanadu

Titel: Der Weg nach Xanadu
Autoren: Wilfried Steiner
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mir immerhin, sie davon zu überzeugen, daß mein Interesse an Culbone
ausschließlich mit Coleridges Biographie zu tun hatte.
    »Gut«, sagte sie schließlich.
»Habe schon eine Idee, wo ich etwas finden könnte. Ich fange gleich an.
Spätestens in zwei Tagen bekommst du ein Päckchen von mir. Nach der Lektüre
bist du dann der führende Culbone-Experte der ganzen Zunft.«
    »Danke«, sagte ich, »du weißt
gar nicht, wie sehr du mir weiterhilfst. Was die Geschichte von Taliesin
betrifft — «
    »Die kann ich dir am Telefon
erzählen«, sagte sie. »Wenn du ein wenig Zeit hast.«
    »Ausnahmsweise«, sagte ich,
»und wirklich nur in diesem einen Fall sind mir schriftliche Unterlagen
lieber.«
    »Du wirst pedantisch auf deine
alten Tage«, sagte sie leicht gekränkt. »Und ein wenig obskur. Wohin soll ich
das Zeug eigentlich schicken?«
    »Ash Farm, Porlock, West
Somerset. Das müßte genügen.«
    »Na schön. Aber paß auf dich
auf. Da ist etwas Verwirrtes in deiner Stimme, das gefällt mir gar nicht.«
    »Mach dir keine Sorgen. Ich
erkläre dir alles genau, spätestens beim nächsten Symposion.«
    »Aix-en-Provence«, sagte Jill,
»Shakespeare, Marlowe und die Canterbury Tales. Gute Weingegend.«
    »Ich werde dort sein«, sagte
ich.
    »Versprochen?«
    »Versprochen.«
     
    Nach dem Gespräch hing mein
Blick noch eine Weile am Telefon, als säße eine kleine Jill im Gehäuse.
    Ich werde mich mit einer
Flasche Chablis Grand Cru revanchieren, dachte ich. Oder besser mit einer
Kiste.
    Jetzt brauchte ich nur noch zu
warten.

Dreiundzwanzig Am nächsten Morgen blätterte ich das Red Book of Hergest Seite für Seite
durch; ich fand keine weiteren Anmerkungen oder Unterstreichungen. Drei Buchstaben
und ein Wort: ob das reichen würde, um die Echtheit eindeutig festzustellen?
    Die Broschüre der Culbone
Church war liebevoll gemacht, wenn auch etwas bieder formuliert und von
frömmlerischem Geist durchweht. Meine zeitlichen Zuordnungen fand ich weitestgehend
bestätigt; das Taufbecken, so erfuhr ich, war tatsächlich achthundert Jahre
alt, das Dach allerdings keine zweihundert. Für meine Vermutung, daß das
Hauptschiff schon vor dem Überfall der Normannen erbaut worden war, fehlten die
Beweise.
    Als heiliger Ort dürfte Culbone
allerdings noch früher das Ziel von Pilgern geworden sein. Der Hinweis darauf
fand sich ausgerechnet auf dem mickrigen Stein, den ich besichtigt hatte: Das
gemeißelte Kreuz wies mit einer Achse deutlich über den Kreis hinaus, in den es
eingeschrieben war. Archäologen hatten in den siebziger Jahren die Bedeutung
dieses Zeichens enträtselt: es war ein Wegweiser für reisende Gläubige nach
Culbone. Die Zeit, in der der Stein aufgestellt worden war, wurde in der
Broschüre mit etwa 600 n. Chr. angegeben. Die Autoren verwiesen auf einen alten
Handelsweg von Porlock nach Lynton, an dem es angeblich mehrere solcher Steine
gegeben hatte. Auf diesem Weg war der heilige Beuno — ein walisischer
Missionar, dem die Kirche geweiht war — im frühen siebten Jahrhundert predigend
durch Devon und Somerset gezogen, um die Heiden von den Segnungen des
Christentums zu überzeugen. Dies gelang ihm vor allem dank seiner erstaunlichen
Heilkünste, die er noch dazu wirkungsvoll in Szene zu setzen vermochte. Einige
von den Heiden geköpfte Märtyrer brachte er ins Leben zurück, indem er ihre
Köpfe wieder auf den Rumpf beförderte und frisch anwachsen ließ. Die heilige
Winifred, die sich geweigert hatte, König Caradog zu heiraten, da sie sich als
Braut Jesu wähnte, büßte die Ablehnung mit einer durchschnittenen Kehle. Doch
Beuno war schon zur Stelle, sprach eine zaubermächtige Beschwörungsformel,
legte die Finger auf die Wunde — und schon konnte Winifred wieder zu ihrem
Jesus beten. Nicht schlecht für einen medizinischen Laien, fand ich.
    Die ältesten Spuren
menschlicher Anwesenheit in Culbone führten ins Innere des Flügels, den ich
heruntergestiegen war. Dort hatte man in den dreißiger Jahren eine
steinzeitliche Grabkammer gefunden, vermutlich um 1800 v. Chr. angelegt.
    Auch die beiden Fenster in der
Nordmauer fanden Erwähnung im Text. Das kleinere war behelfsmäßig in die Wand
geschlagen worden und hatte als Guckloch für Aussätzige gedient, die die Kirche
nicht betreten durften. Im Jahr 1544 war eine Gruppe von fünfundvierzig
Leprakranken — Männer, Frauen und Kinder — nach Culbone verbannt worden. Sie
hatten sich ihre Nahrung in den Wäldern gesucht, die von Hasen und Rehen
wimmelten.
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