Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Weg nach Xanadu

Der Weg nach Xanadu

Titel: Der Weg nach Xanadu
Autoren: Wilfried Steiner
Vom Netzwerk:
verschiedenste
Spekulationen; Jill hatte den Text eines Kollegen mit einem Rufzeichen
markiert, der eine verschollene Originalhandschrift aus dem neunten Jahrhundert
annahm, auf die sich alle späteren Fassungen beziehen mußten. Die Version, die
in das Red Book of Hergest Aufnahme gefunden hatte, stammte aus dem
zwölften Jahrhundert.
    Die Handlung der Romanze fand
ich auf einem Computerausdruck; möglicherweise von Jill eigenhändig verfaßt.
    Tegid Voel, ein Adeliger aus
Penllyn, lebte mit seiner Frau Cerridwen auf einer Insel inmitten des
Tegid-Sees. Sie hatten zwei Kinder: Crieirwy, das schönste Mädchen des Landes,
und Afagddu, den häßlichsten Knaben. Um die Ungerechtigkeit des Schicksals
auszugleichen, kochte Cerridwen in einem riesigen Kupferkessel einen Trank, der
ihrem Sohn visionäre Gaben verleihen und zum größten aller Dichter machen
sollte. Ein Jahr lang hielt sie das Gebräu am Kochen; jeden Tag wurden neue
Kräuter hinzugefügt. Während Cerridwen in den Wald ging, um die Kräuter zu
sammeln, hütete der Nachbarsjunge Gwion, Sohn des Gwreang, den Kessel. Gegen
Ende des Jahres spritzten drei siedendheiße Tropfen aus dem Kessel und fielen
auf Gwions Finger. Er steckte die Finger in den Mund und verstand sofort alle
Geheimnisse der Welt, konnte in Vergangenheit und Zukunft blicken und hörte in
seinem Innern die schönsten Gedichte, die je ein Mensch vernommen hatte.
Gleichzeitig erkannte er, daß er sich vor Cerridwen schützen mußte, die ihn
nach Ablauf des Jahres töten wollte. Er floh, doch sie verfolgte ihn in der
Gestalt einer schwarzen Greisin. Er verwandelte sich in einen Hasen, sie sich
in einen Jagdhund. Er wurde Fisch, sie Otter. Er Singvogel, sie Falke. So ging
die Verfolgungsjagd dahin, ein bißchen wie bei Merlin und Mim. Am Ende
verwandelte sich Gwion in ein Weizenkorn am Boden einer Scheune, und Cerridwen
verschlang ihn in der Gestalt eines schwarzen Huhnes. Als sie ihre
ursprüngliche Gestalt wiedererlangt hatte, erkannte sie, daß sie mit Gwion
schwanger war. Auf diese Weise war er ihr entkommen, denn als er zur Welt kam,
brachte sie es nicht übers Herz, ihren eigenen Sohn zu töten.
    Sie wickelte ihn in ein
Ledertuch, legte ihn in einen Korb und überließ ihn den Strömungen des Meeres.
Die trugen ihn in die Bucht von Cardigan, zum Wehr von Gwyddno Garanhair, wo
ihn Prinz Elphin rettete. Als der Prinz, der eigentlich fischen wollte,
entdeckte, was ihm da ins Netz gegangen war, beschloß er, den schönen Knaben
aufzuziehen. Überwältigt von der Weisheit und Begabung des Kindes, gab ihm
Elphin den Namen Taliesin (»schöne Stirn«).
     
    Meine Augen begannen zu
brennen, ich lehnte mich zurück und trank einen Schluck von dem feinen
Bordeaux, den mir Henderson spendiert hatte.
    Wußte ich jetzt mehr?
    Es waren neue Bruchstücke
hinzugekommen; sie fügten sich nur noch nicht zu einem Ganzen.
    Der Ort, den ich in meinen
Träumen nicht sehen durfte, bis ich ihn in der Realität gefunden hatte, war
also eine Kultstätte der weißen Göttin gewesen.
    Ihren Königen winkte das
Paradies. Erotische Erfüllung und ein Übermaß an Inspiration.
    Aber nur für ein Jahr. Dann
wurden sie geschlachtet.
    In der Romance of Taliesin mußte, um dem Mythos zu entsprechen, Cerridwen Gwion töten — er hatte die
Weisheit usurpiert, wenn auch unbeabsichtigt, die nur dem Heros zustand. Die Weisheit
aus dem Kessel, der ein Jahr brodeln mußte, bis der Trank seine Kraft entfalten
konnte.
    Coleridge identifizierte
Cerridwen mit Geraldine; er konnte keine äußerlichen Entsprechungen gemeint
haben; in der Romance fand sich kein Hinweis auf Cerridwens Gestalt oder
Gesicht. Konnte er die Mythen von Kitnor gekannt haben? Vielleicht hätte er
neben Gwions Namen auch eine Entsprechung setzen sollen: STC.
    Doch Gwions Erleuchtung
verlosch nicht nach einem Jahr: er war von der Göttin verschlungen und wiedergeboren
worden: so wurde er sein eigener Nachfolger als Jahreskönig.
    Es sind Mythen, sagte ich laut,
Mythen! Ein Mythos ist ein Kodex, der Besitzverhältnisse sanktioniert, nichts
weiter! Reiß dich zusammen, Alexander...
    Und doch: war Coleridge ein
Jahr lang Cerridwens Heros gewesen, gefüttert mit dem Gebräu aus dem Kessel der
Inspiration? Und wenn dieser Satz mehr war als eine Metapher, was bedeutete er
dann? Hatte Coleridge in Culbone etwas entdeckt, oder jemanden —
Ausgeschlossen.
    Mein Kopf schmerzte wie verrückt.
Mit den Knöcheln der Finger massierte ich meine Schläfen.
    Meine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher