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Der Weg nach Xanadu

Der Weg nach Xanadu

Titel: Der Weg nach Xanadu
Autoren: Wilfried Steiner
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Kirche hieß: Culbone Church. Neben
dem Opferstock, auf einem massiven Sockel, stand das Taufbecken — aus einem
einzigen Sandsteinblock gehauen, kaum später als um 1200. Das Hauptschiff,
erstaunlich hoch für seinen bescheidenen Grundriß, war vermutlich schon
errichtet worden, bevor die Normannenhorden um William The Conqueror die Insel
überfielen. Ich spendete ein Pfund und steckte eine Broschüre in die
Jackentasche.
    Auf dem Kirchhof steckten etwa
ein Dutzend Grabsteine in der Erde, fast alle Toten hatten die Namen Red oder
Richards getragen. Ein eigener Friedhof — die Alternative zur Familiengruft.
Ein rostiges Kruzifix überragte die Szenerie; an seinem Sockel züngelte das
violette Feuer wilder Glockenblumen empor und kitzelte die Füße des Herrn.
    Ich umrundete die Kirche; an
der Nordwand fielen mir zwei Fenster auf: eines winzig und geformt wie eine
Schießscharte; blickte man hindurch, sah man genau auf den Altar. Das andere
bestand aus zwei Sandsteinbögen, getrennt von einer nach außen gewölbten
Mittelsäule, einer Art Pilaster.
    An der Spitze dieser Säule war
ein Gesicht in den Stein graviert. Das Gesicht einer Frau mit riesigen Augen,
grotesken Lippenwülsten und einem Loch anstelle der Nase. Dieses Relief war das
einzige Element des Fensters, das nicht die rote Farbe des Sandsteins trug. Der
Steinmetz hatte dafür ein anderes Material verwendet; es war ein Gestein, das
ich nicht kannte. Weicher, leichter formbar vermutlich — und blendend weiß.
    Fliegen umschwirrten meinen
Kopf, Unsinn, es gab hier keine Fliegen, es war nur mein Blut, das unter der
Schädeldecke Karussell fuhr und von innen rhythmisch an die Schläfen schlug.
Ich ließ mich auf einem der Reds oder Richards nieder, starrte auf das
wohlbekannte Antlitz, das ein Künstler vor vielleicht tausend Jahren aus dem
weißen Stein gemeißelt hatte, und wartete, bis die Drehbewegungen hinter meiner
Stirn langsamer wurden. Alles Zufall, sagte ich laut zu den Gebeinen unter mir,
Zufall und Hysterie. Genau betrachtet, ähnelte dieses Gesicht weder der Frau,
die ich unter den Granatapfelbäumen in meinem Traum gesehen hatte, noch den
weiblichen Dämonen in Coleridges Gedichten. Höchstens entfernt.
    Ich erhob mich und hörte ein
Ächzen — war es mein eigenes oder hatte der Red oder Richards unter mir seiner
Erleichterung Ausdruck verliehen? Auf dem Grabstein stand Richards, Charlotte
Richards, 1814-1869. Entschuldigte mich bei der Lady und machte mich auf den
Weg. Als ich mich noch einmal umdrehte, hatte gerade ein Sonnenstrahl seinen
Weg durchs Dickicht gefunden; auf dem Dach der Culbone Church tanzten Elfen in
gelben Gewändern.
    Versuchte im Gehen, Ordnung in
die Dinge zu bringen, vergeblich. So kam ich nicht weiter, die vielen Details
fügten sich nicht zu einem Ganzen. Was hatte Taliesin mit dieser Kirche zu tun,
wie kam das Gesicht von Coleridges Nachtmahr auf die Mauer, wieso war für ihn —
oder für den genialen Fälscher seiner Schrift — Cerridwen Geraldine? Ich
brauchte zusätzliche Informationen, die nette Broschüre würde mir vielleicht
das eine oder andere Kuriosum enthüllen, aber sie enthielt kaum die Lösung
meines Rätsels. Und den Inhalt der Romance of Taliesin kannte ich nur
aus meiner Studentenzeit, also so gut wie gar nicht.
    Der Aufstieg machte mir zu
schaffen, Schritt für Schritt kämpfte ich mich den Steig hoch, aber im
Gegensatz zu meinen Gedanken kam der Körper zumindest langsam voran. Sollte ich
mir den Rover noch einmal leihen und in die nächste Universitätsstadt fahren,
dort die Bibliothek durchforsten? Ja, wahrscheinlich war das noch die
sinnvollste Handlungsvariante, besser jedenfalls als hier im Laufrad meiner
Grübeleien zu verenden wie ein herzschwacher Hamster. London war zu weit weg,
die nächste Uni war, in Luftlinie gemessen, zweifellos Cardiff, doch dorthin
würde mich Hendersons Rover kaum befördern können. Also Bristol. Das war in
zwei, drei Stunden zu schaffen, ich mußte nur — Bristol. Jill. Der Blitz war
eingeschlagen in die alte Eiche Markowitsch, und jetzt brannten die
sklerotischen Äste. Jill, wieso hatte ich nicht früher an sie gedacht? Wenn mir
jemand weiterhelfen konnte, dann Jill McAllister, ich mußte sie sofort anrufen,
hoffentlich gab es ein Telefonbuch auf der Farm, meine Schritte wurden
schneller, hoffentlich war sie nicht gerade auf Expedition in ihren geliebten
Highlands, und hoffentlich hatte Henderson nichts dagegen, daß der Spinner sein
Telefon benutzte.
    Jill
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