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Der Weg nach Xanadu

Der Weg nach Xanadu

Titel: Der Weg nach Xanadu
Autoren: Wilfried Steiner
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skeptischer Blick; er erwartete eine Demonstration meiner
Unfähigkeit. Doch der Landrover sprang sofort an, die Hühner stoben kreischend
zur Seite, und ich steuerte die alte Mühle souverän aus dem Hof, den engen Weg
zur Hauptstraße hinunter.
    An den Linksverkehr gewöhnte
ich mich schnell; manchmal war eine Vollbremsung vonnöten, um ein Schafsleben
zu retten, ansonsten verlief die Fahrt ohne Zwischenfälle. Wie sich
herausstellte, hatte mich der Taxifahrer bei meiner Ankunft gelinkt: bog man
von der A 39 in der Höhe von Countisbury nach links ab, eine Seitenstraße
hinunter ins Zentrum von Lynton, so landete man direkt vor der Haustür meines
Hotels.
    Ich packte, als hätten die
Nornen ihren kugelförmigen Monitor auf »Schnellen Vorlauf« geschaltet: die
Bücher wanderten wie von Geisterhand bewegt in die Koffer, meine
Kleidungsstücke schwebten hinterher, der Polster obendrauf. Als ich eine Pause
einlegen wollte, entdeckte ich, daß ich schon fertig war. Ein Blick vom Balkon
mußte noch sein: mit einer tiefen Verneigung sagte ich Lebewohl zu Sillery
Sands.
    Nachdem ich mit Hilfe meines
Gastgebers den Rover vollgeladen hatte, verabschiedete ich mich herzlich, aber
ein wenig abwesend. An die Rückfahrt fehlt mir jede Erinnerung, das Zimmer sog
mich förmlich zurück zur Farm. Erwachte erst im Gästezimmer aus der Absence;
verwirrt saß ich auf dem Bett, umringt von gewaltigen Koffern.
    Im Kamin glühten noch ein paar
verkohlte Holzscheite; niemand hatte das Feuer wieder entfacht, das gestern
nacht orangerote Lichtspiele auf Wände und Decke gezaubert hatte. Doch auch bei
Tageslicht schien dieser Ort aus der Zeit gefallen zu sein. Ich ging zum Tisch
und studierte die aufgeschlagenen Buchseiten. In engen Zeilen und winziger
Schrift waren da die Strophen einer alten englischen Ballade abgedruckt. Sehr
alt, vermutlich dreizehntes oder vierzehntes Jahrhundert; Altenglisch war alles
andere als eine Spezialität von mir, und ich verstand nur Bruchstücke. Erst als
ich auf den ersten Namen stieß, war vieles klarer: Taliesin. Ich legte eine
Hand zwischen die Seiten, um die Stelle nicht zu verlieren, und klappte das
Buch zu. The Red Book of Hergest, stand auf dem Buchdeckel, und eine
Jahreszahl: 1796. Meinem bescheidenen Wissen nach war das Red Book eine
Sammlung von alten walisischen Gesängen aus dem dreizehnten Jahrhundert, in
dieser Ausgabe offensichtlich in einer sehr frühen Übersetzung ins Altenglische,
1796 nachgedruckt. Diese Sammlung enthielt auch die Romance of Taliesin, eine Ballade über den Werdegang eines Barden — und an dieser Stelle war das
Buch aufgeschlagen. Ich hielt den Atem an und klappte den Buchdeckel auf. Die
erste Seite enthielt den Titel, die Jahreszahl und den Namen des Verlegers:
Cottle, Bristol. Am rechten oberen Rand prangte ein schnörkelloses
Ex-Libris-Zeichen, und darunter drei Buchstaben in einer mir sehr vertrauten
Handschrift: S.T.C.
    Ich riß beide Hände zurück, als
wäre das Red Book eine rotglühende Herdplatte.
    Wenn dieses Buch tatsächlich
Coleridge gehört hatte, wie hatte es dann zweihundert Jahre unentdeckt auf
diesem Tisch liegen können? Nein, es war gänzlich unmöglich, es mußte eine
Fälschung sein. Oder eine Falle. Nur — für wen und wozu? Vorsichtig
durchblätterte ich das Buch nach der Taliesin-Passage. Die genaue Stelle fand
ich zwar nicht mehr, dafür aber den Anfang der Romance. Sosehr ich mich
auch abmühte, der Sinn der Zeilen erschloß sich mir nicht. Vielleicht war der
Inhalt ja auch belanglos, die Romance nur zufällig aufgeschlagen.
Zufall, ja, das war das rettende Wort. Zufall, wie alles hier.
    Da entdeckte ich am unteren
Rand der rechten Seite eine Notiz. Ein Name war unterstrichen, Cerridwen, daneben stand in winzigen Lettern, aber unverkennbar in der Handschrift von
Samuel Taylor Coleridge, ein weiterer Name: Geraldine, mit einem
Rufzeichen.
    Wenn das hier eine Fälschung
war, dann eine verdammt gute.
    Wenn es keine war, dann
handelte es sich um eine philologische Sensation.
    Ich mußte das Buch jemandem
zeigen, begutachten lassen — aber dazu mußte ich es von hier wegbringen.
Diebstahl war meine Sache nicht; und es gab im Moment nichts, wonach mir
weniger der Sinn stand als eine weitere Verhandlungsrunde mit Henderson.
    Aber mir würde schon etwas
einfallen.
     
    Endlich durfte ich einen Blick
aus dem Fenster werfen, ohne daß sich der Boden auftat oder eine Hand mich
zurückriß. In dunkelgrünen Kaskaden ergoß sich der Flügel ins Meer, an
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