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Der Weg nach Xanadu

Der Weg nach Xanadu

Titel: Der Weg nach Xanadu
Autoren: Wilfried Steiner
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seinen
Flanken hellgrüne Wirbel. Eingebettet in seine Mitte war eine jener
Talschneisen oder kleinen Schluchten, die man in England C ombe nennt;
für dieses Wort gibt es keine deutsche Entsprechung. Ein Combe erweckt den
Eindruck eines Flusses, an dessen Ufer die Vegetation derart wild gewuchert
ist, daß sie ihn am Ende hat verschwinden lassen.
    Was an diesem Ausblick so
geheimnisvoll sein sollte, daß er mir in den Träumen nicht gestattet gewesen
war, entzog sich meinem Verständnis. Aber was verstand ich schon noch in diesem
Strudel von Ereignissen, Entsprechungen und Unmöglichkeiten, in den ich geraten
war?
    Das Meer empfing die grünen
Fluten in einer von Gischt und Kies gesäumten Bucht. Am Horizont, jenseits des
Bristol Channel, schimmerten die Kalkklippen von Cardiff durch einen Wall aus
flimmernder Luft.
    Da sah ich etwas aufblitzen aus
den Tiefen des Combes, etwa auf halber Strecke zwischen der Farm und der Bucht.
Weiß, ein Würfel oder Quader aus Stein. Ein Teil einer Begrenzungsmauer, die
Ruine eines Cottages, die erste Wand eines Neubaus — es war nicht zu erkennen.
    Jedenfalls das einzige Zeichen
menschlicher Existenz inmitten dieser selbstvergessenen Nature Morte.
    Dorthin wollte ich, nach einem
stärkenden Lunch.
    Oder nein. Jetzt, gleich,
sofort.

Zweiundzwanzig Der direkte Weg war, wie ich schnell in Erfahrung brachte, keineswegs der
schnellste.
    Das Combe war derartig
zugewachsen, daß kein Durchkommen war. Farne, Brombeersträucher, Berberitzen,
Erdbeerbäume — ein kompakter kleiner Dschungel.
    Es blieb mir nichts anderes
übrig, als den Pfad nach Westen zu nehmen und eine Möglichkeit zu suchen, durch
weniger bewachsenes Gelände zur Küste vorzudringen. Doch zwischen mir und dem
Meer zog sich eine lückenlose grüne Mauer parallel zum Pfad, endlos, wie mir
schien. Erst hinter der Silcombe Farm, nach einer halben Stunde, entdeckte ich
eine Öffnung im Dickicht. Von dort führte ein Steg nach unten, halsbrecherisch
steil, aber wenigstens trocken. Die Stechpalmen, die ihn säumten, rissen mir
blutige Kratzer in die Oberarme, aber ich spürte nichts. Nach etwa einer halben
Meile bog der Steg nach rechts; das Gefälle verringerte sich deutlich. Wenn ich
meinem Orientierungssinn trauen durfte, hatte ich das Combe umrundet und
näherte mich der Steinmauer. Das Gehen war jetzt weniger beschwerlich, der Pfad
wurde breiter und mündete in ein Eichenwäldchen. Hoch über den Wipfeln sah man
die Fassade der Ash Farm, das Rechteck unterhalb des Daches mußte das Fenster
sein, von dem aus ich die Steine gesehen hatte. Aber hier war nichts außer
Eichen und ein paar verstreuten Haselnußsträuchern. Ein unsichtbarer Bach
rauschte, einige Vögel beschwerten sich kreischend über den Eindringling. Wer
sollte auch auf die Idee kommen, inmitten dieser trostlosen Idylle etwas zu
bauen? Ich mußte mich getäuscht haben. Vielleicht verbarg sich hinter dem Fleck
ja nur das helle Holz eines Baumstumpfes, die Wunde einer frisch geknickten
Eiche.
    Mißmutig kickte ich einen Stein
zwischen die Bäume. Ein unerwartetes Geräusch folgte, mehrmals hintereinander.
So klang es, wenn ein Stein auf eine harte Oberfläche traf. Stein auf Waldboden
war das jedenfalls nicht, Stein auf Holz ebensowenig, eher schon Stein auf
Stein. Ich untersuchte den Boden zwischen den Stämmen und entdeckte tatsächlich
eine Granitplatte. Sie bildete die erste Stufe einer schmalen Treppe, die durch
das Wäldchen nach unten führte. Den Blick fest auf die Stufen geheftet, um mir
nicht durch einen Fehltritt den Knöchel zu verletzen, stieg ich hinunter. Erst
als ich sicher auf der letzten Stufe angekommen war, blickte ich auf.
    Was ich sah, war mehr als eine
Mauer. Vor mir erhob sich auf einer Lichtung eine Kirche, winzig zwar, aber
komplett mit Kirchhof und Grabkreuzen. Die Wände waren, das erkannte ich selbst
als Laie, mindestens sechs- bis siebenhundert Jahre alt. Bruchsteinmauerwerk, mit
Kalk übertüncht. Ein Rundportal aus rotem Sandstein, vielleicht sogar aus der
Sachsenzeit. Nur das Dach war jünger; fünfzehntes oder sechzehntes Jahrhundert,
vermutete ich.
    Drinnen wurde meine
ehrfurchtsvolle Stimmung von den Insignien der Gegenwart ein wenig ernüchtert.
Die Geschäftstüchtigkeit der Briten hatte auch vor diesem Refugium nicht
haltgemacht; für fünfzig Pence in den Opferstock durfte man einem Drahtgestell
— spätes zwanzigstes Jahrhundert, schätzte ich — eine Broschüre entnehmen.
Wenigstens erfuhr ich auf diese Art, wie die
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