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Der Elefant verschwindet

Titel: Der Elefant verschwindet
Autoren: Haruki Murakami
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Der Aufziehvogel
und die Dienstagsfrauen
    Als diese Frau anrief, stand ich gerade in der Küche und kochte Spaghetti. Die Spaghetti waren so gut wie fertig, und ich pfiff zusammen mit dem Radio die Ouvertüre aus Rossinis »Die diebische Elster«. Die perfekte Musik zum Spaghettikochen.
    Ich wollte das Klingeln des Telefons eigentlich ignorieren und weiter meine Spaghetti kochen. Sie waren fast gar, und Claudio Abbado war gerade dabei, das Londoner Symphonieorchester zu seinem musikalischen Höhepunkt zu führen, aber dann stellte ich doch das Gas kleiner, rannte mit den Kochstäbchen in der rechten Hand ins Wohnzimmer und nahm den Hörer ab. Mir fiel ein, dass es ein Freund sein könnte, der wegen eines neuen Jobs anrief.
    »Hätten Sie zehn Minuten für mich Zeit?«, sagte eine Frauenstimme völlig unvermittelt.
    »Wie bitte?«, fragte ich überrascht. »Was haben Sie gesagt?«
    »Ich fragte, ob Sie nur zehn Minuten für mich Zeit hätten«, wiederholte die Frau.
    Ich konnte mich nicht erinnern, diese Frauenstimme schon mal gehört zu haben. Und da ich mir, was das Erinnern von Stimmen angeht, fast hundertprozentig sicher bin, täuschte ich mich bestimmt nicht. Es war die Stimme einer mir unbekannten Frau. Eine tiefe sanfte Stimme, doch ohne jede Besonderheit.
    »Entschuldigen Sie bitte, aber welche Nummer haben Sie gewählt?«, fragte ich immer noch höflich.
    »Das spielt doch keine Rolle. Das Einzige, was ich möchte, sind zehn Minuten. Dann werden wir uns bestimmt besser verstehen.« Die Frau redete schnell auf mich ein.
    »Uns verstehen?«
    »Unsere Gefühle«, antwortete sie kurz.
    Ich reckte meinen Hals und lugte in die Küche. Aus dem Spaghettitopf stieg gemütlich der weiße Dampf, und Abbado dirigierte weiter die »Diebische Elster«.
    »Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, aber ich koche gerade Spaghetti. Sie sind gleich fertig, doch wenn ich mit Ihnen zehn Minuten spreche, sind sie verkocht. Ich lege jetzt auf, ja?«
    »Spaghetti?«, fragte die Frau verblüfft. »Es ist erst halb elf. Wieso kochen Sie morgens um halb elf Spaghetti? Finden Sie das nicht ein bisschen komisch?«
    »Ob komisch oder nicht, das geht Sie nichts an«, sagte ich. »Ich habe kaum gefrühstückt, und jetzt habe ich eben Hunger. Und schließlich bin ich es, der sie kocht und isst. Um wie viel Uhr ich was esse, ist doch wohl meine Sache, oder?«
    »Ja, natürlich. Na gut, dann lege ich auf«, sagte sie mit aalglatter Stimme. Eine seltsame Stimme. Eine winzige Gefühlsschwankung, und schon änderte sich ihr Tonfall, als ob man eine andere Frequenz eingeschaltet hätte. »Ich rufe später wieder an.«
    »Einen Moment«, rief ich hastig. »Wenn Sie irgendetwas verkaufen wollen, rufen Sie umsonst an. Ich bin nämlich momentan arbeitslos und kann mir gar nichts leisten.«
    »Keine Angst, das weiß ich bereits«, sagte die Frau.
    »Wissen? Was wissen Sie?«
    »Dass Sie arbeitslos sind, natürlich. Das weiß ich. Also kochen Sie schnell Ihre Spaghetti, ja?«
    »Was wollen Sie …«, begann ich, als plötzlich das Gespräch unterbrochen wurde. Es war eine ziemlich abrupte Art einzuhängen. Sie hatte nicht den Hörer aufgelegt, sondern einfach auf die Taste gedrückt.
    Verwirrt starrte ich einen Moment geistesabwesend auf den Telefonhörer in meiner Hand, als mir die Spaghetti wieder einfielen. Ich legte den Hörer auf und ging in die Küche. Ich stellte das Gas ab, schüttete die Spaghetti in ein Sieb, tat sie auf einen Teller, goss die Tomatensauce, die ich in einem kleinen Topf warm gemacht hatte, darüber und begann zu essen. Dank des unsinnigen Telefongesprächs waren die Spaghetti etwas weich. Keine Katastrophe, außerdem war ich zu hungrig, um mich an den Feinheiten des Spaghettikochens aufzuhalten. Ich hörte der Musik im Radio zu und verleibte mir genüsslich die zweihundertfünfzig Gramm bis auf die letzte Nudel ein.
    Ich wusch meinen Teller und den Topf ab, setzte einen Kessel Wasser auf und machte mir mit einem Teebeutel Tee. Und während ich den Tee trank, dachte ich über den Anruf nach.
    Uns verstehen ?
    Warum um Himmels willen rief diese Frau mich an? Wer war sie überhaupt?
    Mir war das alles ein Rätsel. Ich hatte keine Idee, warum ich von einer mir unbekannten Frau einen anonymen Anruf erhalten könnte, und mir war auch vollkommen unklar, was sie eigentlich sagen wollte.
    Wie dem auch sei, dachte ich mir, ich habe keine Lust, die Gefühle irgendeiner fremden Frau zu verstehen. Das führt doch zu nichts. Was ich zunächst
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