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Der Weg nach Xanadu

Der Weg nach Xanadu

Titel: Der Weg nach Xanadu
Autoren: Wilfried Steiner
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menschliches Leben es ertragen könnte.
    Erst als der Seemann erwachte,
fuhr es wieder langsamer. Es war Nacht, der Mond stand hoch, auf dem Deck
versammelten sich die Toten, ihre steinernen Augen glitzerten im Mondlicht.
Noch einmal erinnerten ihre Blicke den Seemann an die Qual ihrer Todesstunde,
dann war der Fluch endlich gesühnt.
    Nach einer schnellen, aber
sanften Fahrt erschien am Horizont der Leuchtturm des Heimathafens. Die
Hafenbucht war klar wie Glas, weiß von stillem Mondlicht; da näherten sich
Gestalten, scharlachrote Schatten, und über jedem Leichnam auf dem Deck stand
ein Engel aus purem Licht.
    Ein Boot kam auf das Schiff zu,
mit dem Lotsen, dem Lotsenjungen und einem Einsiedler an Bord. Je näher sie
kamen, desto größer wurde ihre Angst. Plötzlich hörte man ein Dröhnen unter dem
Wasser, die Bucht wurde aufgerissen, und das Schiff ging unter wie Blei.
    Doch der Seemann wurde in das
Boot des Lotsen gerettet. Als seine Retter ihn sahen, packte sie das Entsetzen.
Der Einsiedler betete, der Lotse fiel in Ohnmacht, der Lotsenjunge wurde
verrückt und schrie, als der Seemann die Ruder packte: »Jetzt sehe ich, daß der
Teufel rudern kann!«
    Endlich an Land, den Einsiedler
um Erlösung anflehend, wurde der Seemann von einem heftigen Schmerz gepackt,
der erst wieder von ihm abließ, als er seine ganze Geschichte erzählt hatte.
    Seit diesem Tag kehrt, zu
unbestimmter Stunde, dieser Schmerz zurück und zwingt den Alten Seemann, immer
neuen Zuhörern von seiner schrecklichen Reise zu berichten. Wie die Nacht geht
er von Land zu Land, begleitet nur von der seltsamen Macht seiner Rede, der
keiner entkommen kann...
     
    Nun, da der Alte Seemann fort
ist, wendet sich der Hochzeitsgast vom Haus des Bräutigams ab. Wie einer, der
betäubt ist und seiner Sinne beraubt, geht er dahin.
    Trauriger und weiser erwacht er
am nächsten Morgen.

Sechs Fast 10 Jahre später, als mein Studium in Wien endlich in seine finale Phase
eingetreten war, suchte ich nach einem Thema für meine Abschlußarbeit und
hetzte kreuz und quer durch den Dschungel der englischen Lyrik; ein
uninspirierter Leser, nur auf der Suche nach etwas Brauchbarem. Leicht
behandelbar sollte es sein, mein Thema, möglichst weit von meinen privaten
Vorlieben entfernt, um diese Pflichtübung nicht durch lästige
Enthusiasmus-Anfälle zu bremsen.
    Trotzdem verzettelte ich mich.
Wieder war es Coleridge, der mir bei meinem pragmatischen Sprint ein Bein
stellte; diesmal allerdings nicht durch ein Gedicht, sondern durch die
Entstehungsgeschichte eines Gedichtes, von ihm selbst aufgezeichnet. Kubla
Khan , ein Text, den ich nach erster Lektüre als prätentiöse Beschreibung
eines orientalischen Wandteppichs abgetan hatte, glänzte im Licht dieser
Geschichte wie ein aus den Tiefen des Meeres gehobener Seeräuberschatz.
     
    Im Oktober 1797 unterbrach
Coleridge eine Wanderung von Porlock nach Lynton und übernachtete auf einer
Farm. Wegen seines angegriffenen Gesundheitszustandes hatte ihm sein Arzt ein
Mittel verschrieben, Opium, dessen Wirkung ihn über der Lektüre des Reisebuches Purchas’s Pilgrimage in seinem Sessel einschlafen ließ. Der letzte Satz
in diesem Buch, den er noch aufgenommen hatte, war ein Bericht über den
mongolischen Fürsten Kubla Khan und seinen Palast. Coleridge schlief drei
Stunden lang; während dieser Zeit stiegen die Bilder des Gedichtes vor ihm auf
wie Dinge — und zwar, wie er sagt, mit einer »parallelen Produktion der
korrespondierenden Ausdrücke«. Als er aufwachte, erinnerte er sich genau an das
vollständige Gedicht — nach seiner Schätzung etwa dreihundert Zeilen. Er griff
sich Feder, Tinte und Papier und begann sofort mit der Niederschrift.
Unglücklicherweise wurde er nach kurzer Zeit von einem Geschäftsmann aus
Porlock unterbrochen, der ihn in ein Gespräch verwickelte. Endlich, nach mehr
als einer Stunde, an den Schreibtisch zurückgekehrt, entdeckte er zu seinem
Erstaunen, daß er zwar noch eine vage Erinnerung an den generellen Inhalt der
Vision hatte, die Worte jedoch, mit Ausnahme von etwa acht bis zehn
bruchstückhaften Zeilen, verschwunden waren »wie die Bilder auf der Oberfläche
eines Flusses, in den ein Stein geworfen wurde«. So blieb Kubla Khan ein
Fragment.
     
    Immer wieder las ich nun laut
den Anfang des Gedichtes, schob die Worte im Mund hin und her, versuchte, sie
einmal am Gaumen, dann zischend zwischen den Zähnen zu artikulieren. Ich kam
mir vor wie ein mittelalterlicher Händler, der
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