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Der Weg nach Xanadu

Der Weg nach Xanadu

Titel: Der Weg nach Xanadu
Autoren: Wilfried Steiner
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Goldstücke mit den Zähnen auf
ihre Echtheit prüft.
    Sogar den schreckenerregendsten
Gegenstand meiner Wohnung vergaß ich darüber, die Badezimmerwaage, die mir ein
paar Tage zuvor Tränen des Selbstekels in die Augen getrieben hatte, indem sie
erstmals den Zeiger über die Hundert-Kilo-Marke pendeln ließ.
     
    Abends nervte ich meine Freunde
in unserem Stammwirtshaus damit, daß ich bei jeder Gelegenheit mein Glas erhob
und den immergleichen Toast aussprach. Die Sätze dienten mir als Beschwörungsformel;
an jenem Abend sollten sie mich befreien. Von den gutherzigen schlanken
Freunden; von den Freundinnen, die mich alle so gern hatten, aber nicht
anfassen wollten; von dem speckgefüllten Rucksack, den mir jemand vorne um den
Leib geschnallt hatte und der sich nun nicht mehr abnehmen ließ.
     
    In Xanadu did Kubla Khan
    A stately pleasure-dome decree:
    Where Alph, the
sacred river, ran
    Through caverns measureless to man
    Down to a sunless sea.
     
    In Xanadu ließ Kubla Khan
    Einen prunkvollen Freudenpalast
errichten:
    Wo Alph, der heilige Fluß,
    Durch
Höhlen, die dem Menschen unermeßlich sind,
    Hinunter
zu einem sonnenlosen Meer floß.
     
    »Jetzt zahlst du aber!« sagte
einer. »Klar«, sagte ich. »Ober! Eine Runde auf mich! Opium für alle!« Nur
eine, aber die einzig wichtige unter den Freundinnen lachte und legte ihre Hand
auf meinen Unterarm. Es war für mich ein Erinnertwerden an das Leben diesseits
der Verbitterung. Wir tranken Marillenschnaps, in Ermangelung des Bestellten,
und seither spüre ich immer, wenn ich Marillenschnaps trinke, den Hauch einer
Hand auf meinem Unterarm.
    Ich habe gelacht in dieser
Nacht. Der schlechte Bauchsack wurde durchgeschüttelt von meinem Lachen, wurde
leicht, begann zu schweben.
    Maria nahm mich mit nach Hause,
ich durfte in ihrem Bett schlafen, wenn ich versprach, nicht aufdringlich zu
werden. Ich habe es versprochen und gehalten. Ein letztes Glas Marillenschnaps
hatte ich noch in der Hand, als sie ihre Nase in meiner Achselhöhle vergrub,
ihre Hände hinter meinem Nacken verschränkte, dann den Kopf hob und mir ins Ohr
flüsterte: »Sag es noch einmal.«
    Maria wollte mich nach der
Xanadu-Nacht allerdings auch nicht mehr sehen; ich lief ihr noch eine Zeitlang
hinterher, gierig nach einer Antwort auf mein Warum ? — aber vergeblich.
Das seltsame Irrlichtern, das von Kubla Khan und seiner
Entstehungsgeschichte ausging, brachte mich dazu, die nur dürftig
ausgeleuchtete Straße meiner Zukunft nicht sofort weiter zu befahren, sondern,
gewissermaßen von einem ruhigen Parkplatz aus, ein letztes Mal auf ihre
Tauglichkeit zu überprüfen. Ein Jahr zuvor war ich noch über einen Seitenweg
voller Schlaglöcher gerattert, hatte das Studium als Zeitvertreib, die Seminare
als Beziehungsanbahnungsveranstaltungen betrachtet und mir eingebildet,
Gedichte zu schreiben sei meine Bestimmung. Wann genau ich diesen Weg
verlassen, oder besser: wann er mich abgeworfen hatte und warum, konnte ich
nicht mehr sagen. Wahrscheinlich war auch mein Fahrzeug unzureichend
ausgerüstet; meine Stoßdämpfer waren sicherlich nicht die besten. Die
einhellige Weigerung der von mir kontaktierten Literaturzeitschriften, die
Gedichte zu drucken, nahm ich persönlicher als die mittlerweile schon zur
Gewohnheit gewordenen Debakel mit der Liebe.
    Aber das allein war es nicht.
Es fiel mir nichts mehr ein. Die weißen Blätter in meiner Schreibmaschine
füllten sich erst wieder mit Buchstaben, als ich beschlossen hatte, in die
Hauptstraße einzubiegen und im Eiltempo meine ausständigen Seminararbeiten
herunterzuklopfen.
    Seit einem Jahr hatte ich kein
Gedicht mehr geschrieben. Vom Abschluß meines Studiums trennte mich nur noch
die letzte Arbeit. Alle Entscheidungen waren getroffen. Meine Eltern freuten
sich.
    So stand ich da, auf meinem
Parkplatz, vor mir die Hauptstraße, von der die Seitenwege abzweigten und sich
im Dunkel verloren. Irgendwo dahinten, hinter der Schwärze, mußte Alph, der
heilige Fluß, seinen Ursprung haben, in den caverns measureless to man. Noch war es nicht zu spät, noch konnte ich mich auf den Weg machen, hinunter
zum sonnenlosen Meer.
    Ich, allein in der Finsternis.
    Meine Abschlußarbeit schrieb
ich über die poetologische Systematisierung viktorianischer Ethik im Werk von
Alfred Lord Tennyson.
    Coleridge sollte ich erst
wiederbegegnen, nachdem ich mich habilitiert hatte.

Sieben »In Xanadu erbaute Kublai Khan einen prächtigen Palast, umgeben von einer
Mauer, die 16
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