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Der Weg nach Xanadu

Der Weg nach Xanadu

Titel: Der Weg nach Xanadu
Autoren: Wilfried Steiner
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mir erst
später wieder ein. In jener Nacht in meinem Berliner Hotelzimmer wurde das Bett
zu einem Segelschiff, und ich stand an Deck mit einer Armbrust in der Hand und
einem toten Vogel um den Hals und lauschte den Gesängen der pazifischen Winde.
    Es war meine erste Begegnung
mit dem Rime of the Ancient Mariner 1 von Samuel Taylor Coleridge; ein erster Blick,
wenn auch anfangs nur mit einem Auge, auf eine gespenstische Traumlandschaft,
auf ein Szenario, in dem ein unerbittlicher Ozean gottlose Himmel spiegelt.

Drei Ein alter Seemann trifft drei zu einer Hochzeit geladene Herren und hält einen
von ihnen auf, um ihm seine Geschichte zu erzählen. Der Hochzeitsgast wehrt
sich, schließlich ist er ein naher Verwandter des Bräutigams und wird bereits
erwartet. Doch der Seemann hält ihn fest, hypnotisiert ihn mit seinen funkelnden
Augen — und der Hochzeitsgast lauscht ihm nun wie ein dreijähriges Kind. Als
der Klang eines Fagotts aus dem nahen Haus des Bräutigams den Beginn der
Zeremonie ankündigt, versucht der Gast noch einmal, dem Bann des Alten Seemanns
zu entkommen, was ihm nicht gelingt.
    Der Seemann erzählt also die
Geschichte seiner Reise.
    Bei schönem Wetter und
günstigem Wind segelte das Schiff südwärts, bis zum Äquator. Plötzlich kam ein
Sturm auf und trieb es mit seinen überwältigenden Schwingen immer weiter
südwärts. Es kamen Nebel und Schnee, es wurde bitter kalt. Masthohe Eisblöcke
trieben vorbei, grün wie Smaragd. Treibeis, schneebedeckte Abgründe — kein
Lebewesen weit und breit, nur krachendes, grollendes, dröhnendes Eis.
    Bis ein Albatros durch den
Schneedunst stieß, immer wieder um das Schiff herumflog und das Futter fraß,
das ihm die Mannschaft darbot. Mit einem Donnerschlag brach das Eis auf; der
Steuermann lenkte das Schiff hindurch, günstige Winde kamen auf. Neun Abende,
in Nebel oder Wolken, saß der Albatros auf Mast oder Takelage, während in den
Nächten durch weißen Nebelrauch das weiße Mondlicht schimmerte. Nun unterbricht
der Hochzeitsgast die Erzählung des Seemanns mit den Worten: »Gott schütze
dich, Alter Seemann, vor den Dämonen, die dich so plagen! Warum schaust du mich
so an?« — »Mit meiner Armbrust erschoß ich den Albatros.«
    Der günstige Wind hielt an,
doch die Mannschaft machte dem Seemann den Vorwurf, den Vogel getötet zu haben,
der die Brise hatte wehen lassen. Doch als die Sonne am nächsten Morgen weder
dunstverhangen noch rot, wie Gottes Haupt selbst, über dem Meer aufging, sagten
alle, es sei richtig gewesen, einen Vogel zu erschlagen, der nur Nebel und
Dunst gebracht hatte.
    Das Schiff segelte weiter
nordwärts, erreichte Zonen des Stillen Ozeans, die noch nie zuvor ein Mensch
gesehen hatte. Plötzlich ließ die Brise nach, und das Schiff stand still. Die
Matrosen sprachen nur noch, um das Schweigen des Meeres zu brechen. An einem heißen
und kupfernen Himmel stand mittags eine blutende Sonne, genau über dem Mast,
nicht größer als der Mond.
    Überall nur Wasser, aber kein
Tropfen zu trinken. Selbst die Meerestiefe verrottete; schleimige Kreaturen
krochen über den schleimigen Ozean.
    Überall tanzten in wildem
Geflacker die Todesfeuer in der Nacht. Das Wasser brannte wie Hexenöl, grün und
blau und weiß.
    Einigen zeigte sich im Traum
der Geist, der all dies verursacht hatte: neun Faden tief war er dem Schiff
gefolgt, aus dem Land des Nebels und des Schnees.
    Jede Zunge war von der
sengenden Trockenheit bis zur Wurzel verdorrt; niemand konnte sprechen, es war,
als ob alle an Ruß erstickt wären.
    Von der aufgebrachten Besatzung
wurde dem Seemann anstelle des Kreuzes der tote Albatros um den Hals gehängt.
     
    Nach einer furchtbaren Zeit der
Flaute und des Durstes erblickte der Seemann am westlichen Horizont einen
kleinen Fleck, einen Nebel.
    Wegen der ausgedorrten Kehlen
und schwarzverbrannten Lippen konnte niemand sprechen. So biß sich der Seemann
in den Arm, saugte das Blut und schrie: »Ein Segel! Ein Segel!«
    Dem Augenblick der Freude
folgte das Grauen.

Vier Fünf- oder sechsmal folgte ich dem Alten Seemann auf seiner Reise durch die
Hölle; ich kam mir selbst vor wie der Hochzeitsgast, der der Geschichte
hypnotisiert zuhören muß, gänzlich im Bann des alten Mannes mit den leuchtenden
Augen.
    Allmählich eroberten die Dinge
ihr Terrain zurück. Da waren sie wieder, die Nachttischlampe, der rote Band mit
der Goldschrift auf dem Nachtkästchen und das Bett, das jede kleinste Bewegung
mit einem Quietschen
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