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Abgebrezelt

Abgebrezelt

Titel: Abgebrezelt
Autoren: Nina Schmidt
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EINS  Fett und alt
    Ich stehe nackt im Bad und drücke die Haut an meinen Oberschenkeln fest zusammen, um mir anzuschauen, wie meine Beine mal aussehen, wenn ich 50 bin. Als ich meinen Oberschenkel wieder loslasse, beschließe ich mit 49 zu sterben.
    Ich befinde mich »noch« in Cellulite-Stadium 1, die Dellen sind also nur dann zu sehen, wenn ich – so wie jetzt – die Haut zusammendrücke oder in zu kurzen Hosen auf zu engen Plastikstühlen sitze. Also trage ich lange Hosen oder stehe im Sommer. Wer keine Lust hat, sich zu Testzwecken in die Oberschenkel zu kneifen, kann auch einfach mal in einer Umkleidekabine bei H&M vorbeischauen. Hier leidet jede Frau, die älter ist als acht, an Cellulite im Endstadium.
    Aber auch ohne H&M-Spiegel und trotz eines unveränderten Gewichts von 60 Kilo hab ich heute das Gefühl, dass meine Schenkel ein wenig zugelegt haben. Ich nehme das Maßband aus meinem Apothekerschrank und messe den Umfang meiner Schenkel, von dem dann auch meistens meine Laune abhängt: Dünne Beine – Spitzenlaune, dicke Beine – Kacklaune. Sie messen beide heute exakt 50,2 Zentimeter, das sind 0,1 Zentimeter mehr als gestern und bedeutet gemäßigte Kacklaune am Montagmorgen.
    Ich messe noch meine Taille, die mit 69 Zentimetern Gott sei Dank den gleichen Umfang hat wie gestern und frage mich, wie es sein kann, dass man nur an den Oberschenkeln zunimmt. Gibt es Lebensmittel, die die Taille und den Bauch einfach ignorieren um dann direkt auf die Oberschenkel zu rutschen? Ist Fett denn so eitel, dass es sich nur Plätze aussucht, an denen es auch gleich gesehen wird? Ich sollte nur noch Sport treiben, nichts mehr essen und keinen Alkohol mehr trinken. Frustriert werfe ich einen Blick auf meine gelben Post-its, die an der Waschmaschine kleben. Auf Zettel 7 und 11 steht: »4-mal die Woche Joggen« und »2 Kilo abnehmen«. Ich nehme die beiden Zettel ab, hänge sie an Platz 1 und 2 und verweise damit »Steuererklärung« und »Kosmetikerin« auf die Plätze.
    Danach packe ich mir eine Pflegekur großzügig in die Haare und wickle mir einen riesigen Handtuchturban um den Kopf. Haarkuren gibt es bei mir immer an einem S-Tag, also am Samstag oder am Sonntag und an den M-Tagen, also Montag und Mittwoch. Die Kur auf meinem Kopf muss mindestens 15 Minuten einwirken. Nicht gerade kurz, aber wenn sie das hält, was der französische Hersteller auf der Rückseite der Flasche verspricht, dann habe ich in einer Viertelstunde revitalisiertes, repariertes, Spliss reduziertes, gesundes, aufgebautes, entwirrtes und unglaublich glänzendes Haar.
    Ich gehöre zu den Menschen, die immer an das glauben wollen, was die Kosmetikindustrie ihnen verspricht: Weniger Falten in zehn Tagen! zwölfmal mehr Wimpern-Volumen ohne zu verklumpen! Schmalere Körpersilhouette in zwei Wochen! Ich weiß zwar genau, dass das alles nicht stimmen kann, kaufe das Zeug aber trotzdem. Schließlich weiß man ja nie, ob es einer Firma nicht doch gelungen ist, ein Produkt zu entwickeln, das einen in zehn Tagen zehn Jahre jünger erscheinen lässt, mit einer Silhouette, so zart wie ein Seidentuch, unendlich langen und wunderbar geschwungenen Wimpern, Haar, das vor lauter Glanz und Volumen nicht zu bändigen ist, und einem Teint, rein und zart wie kostbarstes Porzellan.
    Ich schalte das Radio ein und während die Kur einwirkt, massiere ich meine Füße mit einer speziellen Fußcreme, die sie zart und geschmeidig machen soll, und feile meine Fußnägel. Als ich damit fertig bin, klingelt auch schon meine Eieruhr, die aussieht wie ein Kaktus in einem Blumentopf. Das Wunder auf meinem Kopf müsste vollbracht sein. Ich spüle meine Haare gründlich aus und wickle mir ein frisches Handtuch um den Kopf.
    Während George Michael begeistert »Wake me up before you go go« singt, creme ich mir passend zum Rhythmus und laut mitsingend den Hals, das Dekolleté und die Brüste mit einer speziellen Pflege ein, die angeblich Knitterfalten und Schwerkraft entgegenwirkt. Den Bauch massiere ich mir wie jeden Morgen mit einer straffenden Creme aus Meeresalgen, die tatsächlich ein bisschen nach Nordsee riecht. Für Arme und Schienbeine benutze ich ganz normale Bodylotion, da es meines Wissens noch keine spezielle Arm- und Schienbeinpflege gibt, die ich mir aber wahrscheinlich sofort kaufen würde, um sie dann neben die bereits vorhandenen 97 Tuben, Fläschchen und Tiegel in mein Badezimmerregal zu stellen.
    Dann widme ich mich wieder meinen Oberschenkeln, die ich schon
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