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Der Weg nach Xanadu

Der Weg nach Xanadu

Titel: Der Weg nach Xanadu
Autoren: Wilfried Steiner
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gefolgt und drohte seine Hoffnungen auf eine ländliche Idylle
scheitern zu lassen. War er noch zwei Jahre zuvor von der Idee besessen
gewesen, nach Amerika zu gehen, um an den Ufern des Susquehanna mit seinen
Mitstreitern im Dienste der Freiheit eine pantisokratische Gesellschaft zu
gründen, so hatte er nun, enttäuscht von der imperialistischen Politik
Frankreichs und vielleicht auch ein wenig erschreckt von seiner eigenen
Courage, den Schauplatz seines künftigen Wirkens nach Somerset verlegt — oder
besser: in seinen eigenen Kopf. Denn endlich in Ruhe schreiben zu können war
ihm wichtiger geworden als jede Form politischen Handelns. Was ihn freilich
nicht daran hinderte, schon im Juli 1797 seinen alten Freund John Thelwall nach
Stowey einzuladen, einen Jakobiner und Atheisten, der ein paar Monate wegen
Verdachts auf Hochverrat gesessen hatte und danach beim Versuch, seine
Lehrtätigkeit in Bristol wiederaufzunehmen, durch selbsternannte Patrioten von
der Uni gejagt worden war. Während Coleridge seine Überzeugungen von der
Wertlosigkeit persönlichen Besitzes gleichsam in seinem neuen privaten Gärtchen
begraben hatte, war Thelwall bloß die Luft ausgegangen, was zwar seine
Aktivitäten einschränkte, jedoch seine Gesinnung unangetastet ließ.
    Und so wanderten sie über die
Quantock Hills, der zum Gärtner konvertierte Gleichmacher und der
eingeschüchterte Verschwörer, von Stowey über Holford zum Strand von Kilve, wo
es zu ihrer Gewohnheit wurde, in den Dünen zu sitzen und stundenlang aufs Meer
hinauszuschauen.
    »Bürger John«, sagte Coleridge
eines Abends, »ist das nicht ein wunderbarer Ort, um Pläne zu schmieden für
einen Staatsverrat?«
    »Nein, Bürger Samuel«,
antwortete Thelwall, »es ist eher ein Ort, der einen Mann vergessen läßt, daß
es Gründe gibt für einen Staatsverrat.«
    Bereits einen Monat vorher, am
5. Juni, kam es zu einer Begegnung, die mehr Licht wirft auf das Geheimnis des
»annus mirabilis«. Citizen Samuel besuchte William Wordsworth, mit dem er zuvor
brieflich Manuskripte getauscht hatte, und dessen Schwester Dorothy auf ihrem
Landsitz in Racedown. Der Eindruck, den sie gegenseitig aufeinander machten,
muß ungeheuer gewesen sein. William beschrieb noch vierzig Jahre später, in
einer Prosa, die den Eindruck erweckt, etwas ein paar Stunden zuvor Geschehenes
aufzuzeichnen, wie Coleridge an der Flanke der Black Down Hills auftauchte und
»unwillig, sich an den Pfad zu halten, über ein Gatter sprang und ein wegloses
Feld herunterhüpfte, nur um einen Winkel abzuschneiden«.
    Wordsworth, der Landvermesser,
und Coleridge, der Springinsfeld. Was für eine fruchtbare Mesalliance. Was für
eine vernichtende Freundschaft.
    Vernichtend aber nur für einen.
Und erst später.
    Und Dorothy, damals
fünfundzwanzig, die Immer-Suchende, Immer-Alleingebliebene, in nicht immer
segensreicher Unverbrüchlichkeit ihrem Bruder ergeben, come rain or come shine;
Dorothy, das wilde Gegenbild zu Sarah, von der Ex-Citizen Samuel später
behaupten sollte, er habe sie nur in einem Anfall jakobinischer Verblendung
geheiratet, um gemeinsam mit Southey, dem engsten Verbündeten seiner
pantisokratischen Vision, und dessen Frau — Sarahs Schwester — eine Art
Kerngemeinschaft bilden zu können.
    Dorothy. Schnell fiel mir auf,
daß ich ihre Journale lesen mußte, um mehr zu erfahren über dieses Jahr.
Behutsamerfindungsreiche Naturbeobachtungen wechseln sich ab mit
scharfsichtigen Formulierungen über die beiden Männer, die ab diesem fünften
Juni ihr Leben zu einem, wie William vielleicht gesagt hätte, Teil eines
bewegten Dreiecks machen sollten, oder zu einem Sprung über ein Gatter, in ein
Gelände ohne ausgetretenen Pfad.
    Und ihre Briefe.
    »Du hast etwas versäumt«,
schrieb sie an ihre Freundin Sara Hutchinson, die ein paar Tage vor Coleridges
Ankunft Racedown verlassen hatte, »weil Du ihm nicht begegnet bist. Zuerst
erschien er mir ja sehr schlicht, das heißt, etwa drei Minuten lang; er ist
bleich und dünn, hat einen weiten Mund, dicke Lippen und nicht besonders gute
Zähne, langes, lose wachsendes, halbgekräuseltes grobes schwarzes Haar. Aber
wenn Du ihn fünf Minuten lang sprechen hörst, denkst Du nicht mehr daran.« Es
folgen Hymnen über seine vollen grauen Augen, die Dorothys Meinung nach exakt
jener Vorstellung von »the poet’s eye in a fine frenzy rolling« entsprachen,
die Shakespeare im Sommernachtstraum evoziert.
    Ab diesem Brief häufen sich in
ihren Tagebüchern und ihrer
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