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Deine Schritte im Sand

Deine Schritte im Sand

Titel: Deine Schritte im Sand
Autoren: Anne-Dauphine Julliand
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G ENAU IN DIESEM MOMENT höre ich in mir diese Worte. Sie erreichen mein Herz, meinen Geist und überfluten mein ganzes Wesen: »Wenn du wüsstest …«
    Es ist Mittwoch, der 1. März. Ein ganz normaler Tag gegen Ende des Pariser Winters. Vom Wartezimmer aus, in dem wir bereits seit zwanzig Minuten sitzen, haben wir die beiden Eingänge der neurologischen Abteilung eines Kinderkrankenhauses im Blick, die vor dem Wartezimmer liegen und es einrahmen. Jedes Mal, wenn eine Tür geöffnet wird, halte ich den Atem an. Ich hoffe und fürchte gleichzeitig, das Gesicht der Kinderneurologin zu sehen. Sie wird es mir sagen. Seit ihrem Anruf gestern ist die Zeit wie im Schneckentempo dahingekrochen. »Wir wissen jetzt, woran ihre Tochter leidet. Kommen Sie morgen Nachmittag um drei, dann werden wir es Ihnen erklären. Und bringen Sie bitte Ihren Mann mit.« Damit begann das Warten.
    Loïc sitzt blass und angespannt neben mir. Irgendwann steht er auf, geht ein paar Schritte auf und ab, setzt sich wieder, nimmt eine Zeitschrift, legt sie zurück. Er greift nach meiner Hand und drückt sie fest. Mit der anderen Hand streichele ich über meinen gerundeten Leib. Ich möchte das kleine Wesen beruhigen, das dort seit fünf Monaten lebt. Und ich möchte es schützen.
    Dies ist der Augenblick, in dem ich die Worte höre: »Wenn du wüsstest …« Der Satz dringt tief in mein Innerstes ein. Ich werde ihn nie mehr vergessen. Und ich werde auch nie vergessen, was ich dabei empfinde: Er drückt das unendliche Mitgefühl und das ruhige Vertrauen von jemandem aus, der alles weiß. Er enthält mir das vor, was von nun an unser tägliches Leben bestimmen wird. Und zwar für immer.
    Endlich kommt die Ärztin. Sie begrüßt uns, entschuldigt sich für die Verspätung und führt uns in ein kleines Zimmer am Ende eines langen Flures. Zwei weitere Ärztinnen begleiten uns. Eine ist die Spezialistin für Stoffwechselerkrankungen, die wir bereits kennen.
    Als uns die dritte Ärztin vorgestellt wird, presst es mir das Herz zusammen: Sie ist Psychologin. Mit meiner Fassung ist es vorbei. Ich beginne zu weinen. Obwohl ich eigentlich noch nichts weiß. Aber plötzlich habe ich begriffen. »Wenn du wüsstest …«
    ICH SPÜRE EIN DONNERGROLLEN , ohne dass es gewittert. Die Sätze, die mich erreichen, scheinen auf ihren Kern reduziert zu sein.
    »Ihre kleine Tochter … Erbkrankheit … metachromatische Leukodystrophie … Niedrige Lebenserwartung …«
    Nein!
    Mein Gehirn weigert sich, zu verstehen. Mein Geist lehnt sich auf. Es kann nicht sein, dass diese Frau von meiner Thaïs spricht! Es ist nicht wahr! Ich bin gar nicht hier! Es ist unmöglich! Ich lehne mich an Loïc. Er ist mein einziger Schutz.
    In meinem Kopf herrscht Wirrnis. Meine Lippen bringen eine einzige Frage hervor: »Und was ist mit unserem ungeborenen Baby?«
    »Die Chancen stehen eins zu vier, dass es ebenfalls betroffen ist. Fünfundzwanzig Prozent …«
    Die Erkenntnis trifft mich wie ein Blitzschlag. Vor unseren Füßen scheint sich ein schwarzes Loch aufzutun. Unsere Zukunft ist vernichtet. Und doch meldet sich in diesen wenigen, entscheidenden Sekunden unser Überlebensinstinkt. Nein, wir wünschen keine Fruchtwasseruntersuchung. Wir werden dieses Baby bekommen. Es ist ein neues Leben! Ein winziger Hoffnungsschimmer vor einem bedrohlichen, pechschwarzen Horizont.
    Das Gespräch läuft ohne uns weiter. Wir haben keine Kraft mehr. Uns überkommt das Gefühl, an einem ganz anderen Ort zu sein, irgendwo im Nichts. Gleich werden wir aufstehen und das Zimmer verlassen müssen. So einfach es sich auch anhört, zum jetzigen Zeitpunkt erfordert es von uns einen ungeheuren Kraftaufwand, dies zu tun. Fast mutet es symbolisch an: Nach dem Schock sind wir gezwungen, wieder auf die Beine zu kommen und weiterzugehen. Aber dazu müssen wir den ersten Schritt tun. Nur einen kleinen Schritt – aber immerhin einen Schritt.
    Vor dem Krankenhaus verabschieden wir uns. Verstört, vernichtet und leer. Loïc muss wieder zur Arbeit. Mit einer solchen Katastrophe hatten wir nicht gerechnet.
    Wie ferngesteuert kehre ich nach Hause zurück. Kaum habe ich die Tür geöffnet, steht sie vor mir. Thaïs … Mit ihrem strahlenden Lächeln, ihren rosigen Wangen, ihrer verschmitzten Miene und ihrem Blondschopf wartet sie im Flur auf mich. Da ist sie, glücklich, strahlend, schelmisch, vertrauensvoll. Und heute, am Mittwoch, den 1. März, feiern wir ihren Geburtstag. Sie ist jetzt zwei Jahre alt.
    THAÏS IST EIN
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