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Der vierzehnte Stein

Der vierzehnte Stein

Titel: Der vierzehnte Stein
Autoren: Fred Vargas
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aber niemand hatte je herausgefunden, welches lindernde Mittel denn nun wirklich Adamsbergs Stimme beigemischt worden war. Thymian? Gelée royale? Wachs? Eine Mischung von alledem? Danglard senkte den Ton.
    »Und wer«, fuhr er leiser fort, »ist nach Lissabon gerannt, sie zu sehen, und hat die ganze Geschichte in weniger als drei Tagen wieder kaputtgekriegt?«
    »Ich.«
    »Sie. Eine einzige Sinnlosigkeit, nicht mehr und nicht weniger.«
    »Die Sie nichts angeht.«
    Adamsberg stand auf, spreizte die Finger und ließ den Becher senkrecht in den Papierkorb fallen, genau in die Mitte. So wie einer schießt, wie er zielt. Er verließ das Zimmer mit gleichmäßigen Schritten, ohne sich noch einmal umzudrehen.
    Danglard preßte die Lippen aufeinander. Er wußte, daß er die Grenze überschritten und auf verbotenem Terrain angegriffen hatte. Aber unter dem Druck des Unmuts, den er nun seit Monaten mit sich herumtrug, und gereizt durch die Sache mit Quebec, hatte er sich nicht mehr beherrschen können. Er rieb sich mit seinen rauhen Wollhandschuhen über die Wangen und dachte unschlüssig nach über diese Monate lastenden Schweigens, der Lüge, vielleicht sogar des Verrats. Es war gut so, oder auch schlecht. Durch seine Finger hindurch fiel sein Blick auf die auf dem Tisch ausgebreitete Karte von Quebec. Wozu sich überhaupt das Leben schwer machen? In einer Woche wäre er tot, und Adamsberg auch. Stare, von der Turbine geschluckt, linkes Triebwerk in Brand, Explosion überm Atlantik. Er hob die Flasche und trank einen großen Schluck. Dann nahm er den Telefonhörer ab und wählte die Nummer des Monteurs.

2
    Beim Kaffeeautomaten traf Adamsberg Violette Retancourt. Er hielt ein wenig Abstand und wartete, daß der kräftigste seiner Lieutenants sein Glas von den Zitzen der Maschine zog – denn in der Vorstellungswelt des Kommissars erinnerte der Getränkeapparat an eine Nährkuh, die sich in den Büros der Mordbrigade niedergelassen hatte, eine stille Mutter, die über sie wachte, und dafür liebte er ihn. Aber Retancourt verschwand, sobald sie ihn sah. Ganz offensichtlich, dachte Adamsberg, während er einen Becher unter das Euter des Automaten stellte, war dies nicht sein Tag.
    Ob nun sein Tag oder nicht, Lieutenant Retancourt war ein seltener Fall. Adamsberg hatte dieser beeindruckenden Frau, fünfunddreißig Jahre alt, ein Meter neunundsiebzig groß und hundertzehn Kilo schwer, nichts vorzuwerfen, sie war ebenso intelligent wie stark und besaß die Fähigkeit, wie sie bereits demonstriert hatte, ihre Kraft nach Belieben umzuwandeln. Und in der Tat hatte die Vielfalt der Mittel, die Retancourt mit einer geradezu erstaunlichen Schlagkraft innerhalb eines Jahres unter Beweis gestellt hatte, den Lieutenant zu einem Grundpfeiler des Gebäudes werden lassen, zur vielseitigen Kriegsmaschine der Brigade, einsetzbar auf jedem Gebiet, geistig, taktisch, behördlich, im Kampf wie beim Präzisionsschießen. Aber Violette Retancourt mochte ihn nicht. Ohne alle Feindseligkeit, sie ging ihm einfach aus dem Weg.
    Adamsberg nahm seinen Kaffeebecher an sich, tätschelte die Maschine zum Zeichen kindlicher Dankbarkeit und ging in sein Büro zurück, in seinen Gedanken kaum beeindruckt von Danglards Ausbruch. Er hatte nicht vor, in stundenlanger Arbeit die Ängste des Capitaine zu beruhigen, ob es sich nun um die Boeing handelte oder um Camille. Allerdings wäre es ihm lieber gewesen, er hätte ihm nicht erzählt, daß Camille in Montreal war, ein Umstand, von dem er nichts wußte und der seinem Ausflug nach Quebec ein wenig in die Quere kam. Es wäre ihm lieber gewesen, daß die Bilder nicht wieder zum Leben erweckt würden, die er an den Randzonen seiner Augen, im süßlichen Schlick des Vergessens, vergraben hatte, eines Vergessens, in dem das kantige Kinn versank, der kindliche Mund unscharf wurde und die weiße Haut dieses Mädchens aus dem Norden sich mit waberndem Grau überzog. Daß diese Liebe nicht aufs neue belebt würde, die sich doch unmerklich auflöste in den vielfältigen Landschaften, die ihm die anderen Frauen boten. Sein unbestreitbarer Zwang zum Plündern, zum Stehlen junger Früchte, der Camille verständlicherweise verletzte. Wie oft hatte er gesehen, daß sie sich nach einem seiner Streifzüge die Hände auf die Ohren preßte, als hätte ihr melodiöser Liebhaber mit seinen Nägeln über eine Tafel gekratzt und eine Dissonanz in ihre zarte Partitur gebracht. Camille war Musikerin, das erklärte vieles.
    Er setzte sich
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