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Der vierzehnte Stein

Der vierzehnte Stein

Titel: Der vierzehnte Stein
Autoren: Fred Vargas
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zusammenkauerte, bis es vorüber war. Danach streckte der Ahn sich und kehrte ins Leben zurück, sein Fieber war verschwunden, der Fels hatte es geschluckt. Adamsberg lächelte. In dieser großen Stadt würde er keine Höhle finden, um sich darin einzurollen wie ein Bär, keine einzige Felsspalte, die sein Fieber aufnehmen und seinen Eindringling in einem Stück verschlingen könnte. Aber vielleicht war er in diesem Augenblick auch schon auf den Nacken eines irischen Tischnachbarn übergesprungen.
     
    Sein Freund Ferez, der Psychiater, hätte zweifellos versucht herauszufinden, was diese Attacken auslöste. Den verborgenen Konflikt, das uneingestandene Leid zu ergründen, das wie ein Gefangener plötzlich an seinen eisernen Ketten rüttelte. Ein Rasseln, das ebendiese Schweißausbrüche, diese Krämpfe hervorrief, und ein Geheul, unter dem sich ihm der Rücken krümmte. Das hätte Ferez zu ihm gesagt, mit jener gefräßigen Sorge, die er an ihm kannte, wenn es um außergewöhnliche Fälle ging. Er hätte gefragt, wovon er gerade gesprochen habe, als die erste von den Krallenkatzen ihm ins Kreuz gefahren sei. Von Camille vielleicht? Oder von Quebec?
    Er hielt im Gehen inne und kramte in seinem Gedächtnis, überlegte, was er zu Danglard gesagt haben mochte, als der erste Ausbruch ihm den Hals zugeschnürt hatte. Rembrandt, genau. Er hatte von Rembrandt gesprochen, von dem fehlenden Helldunkel im Fall Hernoncourt. In dem Moment war’s geschehen, also längst vor dem Streit über Camille oder Kanada. Und vor allem hätte er Ferez erklären müssen, daß noch nie zuvor irgendein Problem ihm eine boshafte Katze auf die Schultern gejagt hatte. Daß dies was völlig Unbekanntes war, etwas noch nie Dagewesenes, eine Neuheit. Und daß sich die Attacken in unterschiedlichen Situationen und an verschiedenen Orten ereignet hatten, ohne daß die geringste Verbindung zwischen ihnen bestand. Welchen Zusammenhang gab es zwischen der braven Enid und seinem Stellvertreter Danglard, zwischen dem Tisch in den Schwarzen Wassern und der Pinnwand? Zwischen dem Gedränge in der Bar und der Einsamkeit im Büro? Keinen. Selbst ein so cleverer Typ wie Ferez würde sich die Zähne daran ausbeißen. Und sich weigern zu glauben, daß ein Eindringling an Bord gekommen war. Er fuhr sich durchs Haar, rieb seine Arme und Schenkel, brachte seinen Körper wieder in Gang. Dann lief er weiter und versuchte sich auf seine gewohnten Kraftreserven zu besinnen: Spazierengehen, Passanten aus der Ferne beobachten, die Gedanken beweglich wie Treibholz.
     
    Die vierte Böe erfaßte ihn eine Stunde später, als er den Boulevard Saint-Paul hinauflief, nur wenige Schritte von seiner Wohnung entfernt. Er krümmte sich unter dem Anfall und stützte sich an einer Laterne ab, wie gelähmt durch das Fauchen der Gefahr. Er schloß die Augen, wartete. Keine Minute später hob er langsam den Kopf, ließ die Schultern sinken, bewegte die Finger in den Taschen, wieder der gleichen Verwirrung ausgeliefert, die der Sturm bei seinem Durchzug nun zum viertenmal zurückließ. Eine Not, ein namenloser Schmerz, der ihm die Tränen in die Augen trieb.
    Einen Namen aber hätte er gebraucht. Einen Namen für diese Heimsuchung, diesen Schrecken. Denn der vergangene Tag, der mit seinem täglichen Weg in die Büros der Mordbrigade so harmlos begonnen hatte, ließ ihn verändert zurück, er war verwandelt und unfähig, die Routine am nächsten Tag wiederaufzunehmen. Am Morgen noch ein ganz gewöhnlicher Mensch, war er nun, am Abend, in seinem Wesen erschüttert, blockiert, ein Vulkan hatte sich vor seinen Füßen aufgetan, ein Feuerschlund, in dessen Tiefe ein unerklärliches Rätsel lauerte.
     
    Er löste sich von der Laterne und studierte seine Umgebung wie den Schauplatz eines Verbrechens, dessen Opfer er geworden war, er suchte nach einem Zeichen, das ihm den Namen des Mörders offenbaren konnte, der da auf ihn einschlug. Er trat einen Meter zurück und wieder genau an die Stelle, an der er den Hieb empfangen hatte. Sein Blick wanderte über den leeren Bürgersteig, über das dunkle Schaufenster eines Geschäftes zu seiner Rechten, ein Werbeplakat zu seiner Linken. Nichts sonst. Nur dieses beleuchtete Plakat in seinem gläsernen Kasten war klar sichtbar in der Nacht. Das also war das letzte, was er erblickt hatte, bevor die Böe auf ihn niederfuhr. Er besah es sich genauer. Es war die Reproduktion eines klassischen Gemäldes, darunter die Ankündigung: Die Prunkmalerei des 19.
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