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Der vierzehnte Stein

Der vierzehnte Stein

Titel: Der vierzehnte Stein
Autoren: Fred Vargas
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Jahrhunderts. Ausstellung im Grand Palais. 18. Oktober – 17. Dezember.
    Das Gemälde stellte einen muskulösen Kerl dar, hellhäutig und mit schwarzem Bart, der, umgeben von Nymphen, in einer breiten Muschel auf dem Ozean thronte. Adamsberg konzentrierte sich einen Augenblick auf dieses Bild, ohne zu begreifen, wodurch es die Attacke ausgelöst haben könnte, wie er ebensowenig verstand, in welcher Weise sein Gespräch mit Danglard, sein Bürosessel oder der verräucherte Schankraum vom Dublin dies vermocht haben sollten. Dennoch geriet ein Mensch ja nicht durch ein Fingerschnipsen von der Normalität ins Chaos. Dazu brauchte es einen Übergang, eine Verbindung. Hier wie anderswo und auch im Fall Hernoncourt fehlte ihm das Helldunkel, die Brücke vom Ufer des Schattens hinüber zum Licht. Er seufzte vor Ohnmacht, biß sich auf die Lippen und sah forschend in die Nacht hinaus, wo ein paar Taxis leer umherschweiften. Er hob einen Arm, stieg in den Wagen und nannte dem Fahrer die Adresse von Adrien Danglard.

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    Er mußte dreimal klingeln, bevor ihm Danglard schlaftrunken die Tür öffnete. Der Capitaine zog sich innerlich zusammen, als er Adamsberg sah, seine Züge schienen noch schärfer geworden, die Nase noch gebogener, und ein düsteres Flackern lag unter den hohen Wangenknochen. Also hatte der Kommissar sich nicht, wie sonst, genausoschnell entspannt, wie er sich erregt hatte. Danglard hatte die Grenze überschritten, das wußte er. Seitdem hatte er sich unaufhörlich mit dem Gedanken an eine mögliche Auseinandersetzung gemartert, eine Verwarnung vielleicht. Oder eine Strafmaßnahme? Oder noch Schlimmeres? Unfähig, die Sturzflut seines Pessimismus aufzuhalten, war er während des ganzen Abendessens die in ihm aufsteigenden Befürchtungen wieder und wieder durchgegangen, gleichzeitig bemüht, die Kinder nichts davon merken zu lassen, wie er natürlich auch das Problem mit dem linken Triebwerk mit keiner Silbe erwähnt hatte. Die beste Ablenkung war da immer noch, ihnen eine neue Story von Lieutenant Retancourt zu erzählen, was sie auf jeden Fall amüsierte, vor allem die Tatsache, daß diese kräftige Frau – von der man meinen konnte, sie sei von Michelangelo gemalt, der bei all seinem Genie in der Darstellung der geschmeidigen Ungewißheit des weiblichen Körpers nicht eben der Gewandteste war –, daß also diese Frau den Namen einer zarten Wildblume trug, des Veilchens. An diesem Tag also hatte sich Violette leise mit Hélène Froissy unterhalten, die gerade großen Kummer hatte. Violette hatte einen ihrer Sätze mit einem Schlag der flachen Hand auf den Kopierer bekräftigt, worauf das Gerät, dessen Papiereinzug seit fünf Tagen hoffnungslos blockiert war, augenblicklich wieder funktionierte. Einer von Danglards Zwillingen hatte gefragt, was wohl passiert wäre, wenn Retancourt auf den Kopf von Hélène Froissy geschlagen hätte statt auf den Kopierer. Wäre es möglich gewesen, auf diese Weise die Gedanken des traurigen Lieutenant wieder in fröhlichere Bahnen zu lenken? Konnte Violette Menschen und Dinge beeinflussen, wenn sie sich darauf abstützte? Jeder von ihnen hatte anschließend gegen den maroden Fernseher geklopft, um seine eigene Macht zu testen – Danglard hatte nur einmal Klopfen pro Kind erlaubt –, aber das Bild war nicht auf den Schirm zurückgekehrt, und der Kleinste hatte sich den Finger dabei verstaucht. Als die Kinder endlich schliefen, holten ihn die düsteren Vorahnungen aufs neue ein.
     
    Nun stand er vor ihm, sein Vorgesetzter, und Danglard kratzte sich in einer trügerischen Geste der Selbstverteidigung die Brust.
    »Machen Sie schnell, Danglard«, keuchte Adamsberg, »ich brauche Sie. Unten wartet das Taxi.«
    Ernüchtert durch diese unvermittelte Rückkehr zur Ruhe, zog der Capitaine eilig Jacke und Hose an. Adamsberg nahm ihm seinen Wutausbruch also gar nicht übel, er war bereits vergessen und verschwunden im Dunstkreis seiner Langmut oder seiner gewohnten Unbekümmertkeit. Wenn der Kommissar ihn mitten in der Nacht holte, mußte ein Mordfall über die Brigade gekommen sein.
    »Wo ist es?« fragte er, als er wieder bei Adamsberg war.
    »Saint-Paul.«
    Die beiden Männer liefen die Treppe hinunter, wobei Danglard versuchte, sich gleichzeitig seinen Schlips und einen dicken Schal umzubinden.
    »Gibt’s Opfer?«
    »Beeilen Sie sich, mein Lieber, es ist dringend.«
    Das Taxi setzte sie bei dem Werbeplakat ab. Adamsberg bezahlte, während Danglard überrascht auf die
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