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Der vierzehnte Stein

Der vierzehnte Stein

Titel: Der vierzehnte Stein
Autoren: Fred Vargas
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von links hereinfiel. Und sich selbst, wie er vom Helldunkel sprach. In welcher Haltung? Die Arme verschränkt? Oder auf den Knien? Die Hand auf dem Tisch? In der Hosentasche? Was tat er mit seinen Händen?
    Er hielt eine Zeitung. Er hatte sie sich vom Tisch gegriffen, aufgefaltet und durchgeblättert, ohne sie bei seinem Gespräch wirklich wahrzunehmen. Ohne sie wahrzunehmen? Oder hatte er, im Gegenteil, doch hineingeschaut? Und zwar so genau, daß eine mächtige Woge aus seiner Erinnerung hervorgebrochen war?
     
    Adamsberg sah auf die Uhr, zwanzig nach fünf. Er erhob sich schnell, strich seine zerdrückte Jacke glatt und ging. Sieben Minuten später entsicherte er den Alarm am Eingangstor und betrat die Räume der Brigade. In der Eingangshalle war es eisig, der Monteur, der um neunzehn Uhr hatte kommen sollen, war nicht gekommen.
    Er grüßte den Wachhabenden und schlich leise in das Büro seines Stellvertreters, wobei er vermied, die Leute von der Nachtschicht auf sich aufmerksam zu machen. Er schaltete nur die Schreibtischlampe an und suchte nach der Zeitung. Danglard war nicht der Mensch, der sie auf dem Tisch herumliegen ließ: Adamsberg fand sie im Aktenschrank. Ohne sich zu setzen, blätterte er sie durch auf der Suche nach irgendeinem neptunischen Zeichen. Aber es kam schlimmer. Auf Seite sieben fand sich unter der Titelzeile Junges Mädchen in Schiltigheim mit drei Messerstichen ermordet ein unscharfes Foto, das einen Körper auf einer Tragbahre zeigte. Trotz der Grobkörnigkeit des Bildes konnte man den hellblauen Pullover des Mädchens und in Bauchhöhe drei nebeneinander liegende rote Löcher erkennen.
    Adamsberg lief um den Tisch herum und setzte sich in Danglards Bürosessel. In seinen Händen hielt er das letzte Bruchstück des Helldunkels, die drei flüchtig wahrgenommenen Wunden. Das blutige Zeichen, daß er so viele Male gesehen hatte in der Vergangenheit, Handschrift des Mörders, der seit sechzehn Jahren reglos in seiner Erinnerung verharrte. Und den dieses Foto schlagartig wieder zum Leben erweckt hatte.
    Nun war er ruhig. Er nahm die Seite aus der Zeitung heraus, faltete sie zusammen und steckte sie in die Innentasche seiner Jacke. Die Elemente waren an ihrem Platz, die Böen würden nicht wiederkommen. Ebensowenig wie der Dreizack, der durch ein zufälliges Zusammentreffen von Bildern auferstanden war – und nach diesem kurzen Mißverständnis in seine Höhle des Vergessens zurückkehren würde.

6
    Die Versammlung der acht Mitglieder der Quebec-Mission fand bei acht Grad Celsius statt, in trüber, kältegeschwächter Stimmung. Die Partie wäre verloren gewesen ohne die entscheidende Anwesenheit von Lieutenant Violette Retancourt. Ohne Handschuhe noch Mütze, zeigte sie nicht die geringste Spur von Verdrossenheit. Im Gegensatz zu ihren Kollegen, die sich mit verkrampftem Kiefer und angestrengter Stimme äußerten, hatte sie wie immer ihren kräftigen, energischen Ton drauf, der noch verstärkt wurde durch das Interesse, das sie der Quebec-Mission entgegenbrachte. Sie saß zwischen Voisenet, der die Nase in seinen Schal drückte, und dem jungen Estalère, der dem vielseitigen Lieutenant einen regelrechten Kult widmete, wie einer allmächtigen Göttin, einer korpulenten Juno, gekreuzt mit der Jägerin Diana und einem zwölfarmigen Shiva. Retancourt regte an, legte dar, schlußfolgerte. Ganz offensichtlich hatte sie ihre Energie heute in Überzeugungskraft umgewandelt, und Adamsberg überließ ihr lächelnd die Spielführung. Trotz seiner chaotischen Nacht fühlte er sich entspannt und wieder auf seinem normalen Pegelstand. Von dem Wacholderschnaps hatte er nicht mal einen Brummschädel zurückbehalten.
    Danglard beobachtete den Kommissar, der lässig auf seinem Stuhl wippte und seinen Unmut vom Vorabend vergessen zu haben schien, ja selbst ihr nächtliches Gespräch über den Gott des Meeres. Retancourt sprach noch immer, entkräftete die Gegenargumente, und Danglard fühlte, wie er zunehmend an Boden verlor und eine unabwendbare Kraft ihn zu dieser Boeing mit den von Staren verstopften Triebwerken drängte.
    Retancourt setzte sich durch. Um zwölf Uhr zehn wurde die Reise zur Königlichen Gendarmerie in Gatineau mit sieben Stimmen und einer Gegenstimme angenommen. Adamsberg hob die Versammlung auf und ging dem Präfekten ihre Entscheidung ankündigen. Auf dem Flur hielt er Danglard zurück.
    »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte er. »Ich werde den Faden schon halten. Ich mache das sehr
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