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Der vierzehnte Stein

Der vierzehnte Stein

Titel: Der vierzehnte Stein
Autoren: Fred Vargas
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dann noch zu schaffen?«
    »Eine Kindheitserinnerung.«
     
    Auf Danglard machte diese Antwort nicht denselben beschwichtigenden Eindruck wie auf Trabelmann. Im Gegenteil, der Capitaine spürte, wie seine Befürchtungen zunahmen. Er ging auf maximale Bildvergrößerung und startete den Druckvorgang. Adamsberg sah zu, wie das Bild rucksend aus dem Gerät kam. Er griff es an einer Ecke, ließ es rasch in der Luft trocknen und schaltete dann die Lampe an, um es genauer zu betrachten. Ohne zu begreifen, sah Danglard, wie er sich ein langes Lineal nahm, eine Spanne maß, dann eine andere, eine Linie zog, mit einem Punkt die Mitte der blutigen Einstiche markierte, eine weitere, parallele Linie zog, noch einmal maß. Schließlich warf Adamsberg das Lineal weg und lief im Zimmer umher, das Foto in der Hand. Als er sich herumdrehte, las Danglard in seinen Zügen eine Art erstaunten Schmerz. Und wenn Danglard diesen Ausdruck auch schon bei Tausenden Gelegenheiten gesehen hatte, so sah er ihn doch zum erstenmal auf dem leidenschaftslosen Gesicht von Adamsberg.
    Der Kommissar nahm einen neuen Ordner aus dem Schrank, legte die schmale Akte hinein und schrieb fein säuberlich einen Titel darauf, Dreizack Nr. 9, mit einem Fragezeichen dahinter. Er würde nach Straßburg fahren und sich die Leiche ansehen müssen. Allerdings kämen damit auch die dringlich zu treffenden Vorbereitungen für die Quebec-Mission ins Stocken. Er beschloß, sie Retancourt anzuvertrauen, denn in dieser Angelegenheit war sie ihnen allen ohnehin um Längen voraus.
    »Kommen Sie mit zu mir nach Hause, Danglard. Sie müssen das sehen, sonst verstehen Sie nicht.«
     
    Danglard ging in sein Büro zurück und holte seine große schwarze Ledertasche, mit der er wie ein englischer Collegeprofessor oder manchmal auch wie ein Priester in Zivil aussah, und folgte Adamsberg durch den Konzilsaal. Bei Retancourt blieb Adamsberg stehen.
    »Ich möchte Sie heute vor Feierabend noch sprechen«, sagte er. »Sie werden mich entlasten müssen.«
    »Kein Problem«, antwortete Retancourt und sah kaum von ihrem Aktenordner auf. »Ich bin bis Mitternacht im Dienst.«
    »Perfekt. Bis heute abend also.«
    Adamsberg war schon aus dem Raum, als er plötzlich die fette Lache von Brigadier Favre hörte und gleich darauf seine näselnde Stimme.
    »Er braucht dich, um ihn zu entlasten«, feixte Favre.
    »Heute ist der große Abend, Retancourt, Defloration des Veilchens. Der Chef kommt aus den Pyrenäen, so wie der klettert keiner auf Berge. Ein wahrer Profi unbezwingbarer Gipfel.«
    »Eine Sekunde, Danglard«, sagte Adamsberg und hielt seinen Stellvertreter zurück.
    Gefolgt von Danglard, ging er in den Raum zurück und geradewegs auf Favres Schreibtisch zu. Es war plötzlich sehr still. Adamsberg griff eine Seite des metallenen Tischs und stieß ihn mit Wucht zurück. Er kippte krachend um, riß Papiere, Berichte, Dias mit sich, die wild durcheinander auf dem Boden landeten. Favre, seinen Kaffeebecher in der Hand, saß verdattert da und zeigte keine Reaktion. Adamsberg peilte die Stuhlkante an und ließ das Ganze hintenüberkippen, den Stuhl samt Brigadier und Kaffee, der sich über dessen Hemd ergoß.
    »Nehmen Sie das zurück, Favre, eine Entschuldigung und daß es Ihnen leid tut. Ich warte.«
    Scheiße, dachte Danglard und griff sich an die Stirn. Er sah, wie Adamsbergs Körper sich spannte. In den letzten zwei Tagen hatte er mehr neue Gefühlsregungen an ihm erlebt als in all den Jahren ihrer Zusammenarbeit.
    »Ich warte«, wiederholte Adamsberg.
    Favre rappelte sich auf die Ellbogen hoch, um ein wenig Würde vor den Kollegen zurückzuerlangen, die sich jetzt verstohlen dem Epizentrum des Streits näherten. Nur Retancourt, die Zielscheibe von Favres Grausamkeiten, saß regungslos da. Allerdings ordnete sie keine Akten mehr.
    »Was denn zurücknehmen?« kreischte Favre. »Die Wahrheit? Was hab ich denn gesagt? Daß Sie ein Bergsteiger-As sind, stimmt das etwa nicht?«
    »Ich warte, Favre«, wiederholte Adamsberg.
    »Scheiß drauf«, erwiderte Favre, der wieder zu sich kam.
    Da riß Adamsberg Danglard die schwarze Ledertasche aus den Händen, holte eine volle Flasche heraus und zerschmetterte sie auf dem metallenen Tischbein. Glassplitter und Wein flogen durch den Raum. Mit der zerschlagenen Flasche in der Hand tat er einen Schritt auf Favre zu. Danglard wollte den Kommissar zurückhalten, aber Favre hatte mit einer raschen Bewegung seine Waffe gezogen und zielte mit dem Revolver auf
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