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Der vierzehnte Stein

Der vierzehnte Stein

Titel: Der vierzehnte Stein
Autoren: Fred Vargas
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verlassene Straße sah. Kein Blaulicht, niemand von der Spurensicherung, ein leerer Bürgersteig und verschlafene Häuser. Adamsberg griff ihn beim Arm und zog ihn hastig zu dem Aufsteller. Ohne ihn loszulassen, wies er auf das Gemälde.
    »Was ist das, Danglard?«
    »Wie bitte?« sagte Danglard irritiert.
    »Das Gemälde, zum Donnerwetter noch mal. Ich frage Sie, was das ist. Was es darstellt.«
    »Und das Opfer?« sagte Danglard und sah sich um. »Wo ist das Opfer?«
    »Hier«, sagte Adamsberg und tippte sich auf die Brust.
    »Antworten Sie mir. Was ist das?«
    Danglard schüttelte halb verwirrt, halb beleidigt den Kopf. Dann aber kam ihm die traumhafte Absurdität dieser Situation mit einemmal so amüsant vor, daß reine Heiterkeit seine Wut hinwegfegte. Er empfand tiefe Dankbarkeit für Adamsberg, der nicht nur seine Beleidigungen ignoriert hatte, sondern ihm an diesem Abend ganz unfreiwillig auch noch einen Moment außergewöhnlicher Verrücktheit schenkte. Denn allein Adamsberg war imstande, das gewöhnliche Leben so zu verdrehen, daß sich solche Extravaganzen, solche Augenblicke bizarrer Schönheit daraus gewinnen ließen. Was spielte es da für eine Rolle, wenn er ihn aus dem Schlaf riß, um ihn bei eisiger Kälte und weit nach Mitternacht zu Neptun zu schleppen?
    »Wer ist dieser Kerl?« wiederholte Adamsberg, ohne seinen Arm loszulassen.
    »Neptun, wie er gerade aus den Fluten steigt«, antwortete Danglard lächelnd.
    »Sind Sie sicher?«
    »Neptun oder auch Poseidon, wie Sie wollen.«
    »Ist das der Gott des Meeres oder der Hölle?«
    »Sie sind Brüder«, erklärte Danglard und freute sich, mitten in der Nacht einen Vortrag über Mythologie halten zu können. »Drei Brüder: Hades, Zeus und Poseidon. Poseidon herrscht über das Meer, über seine blauen Weiten und seine Stürme, aber auch über seine abgründigen Tiefen und ihre Gefahren.«
    Adamsberg hatte seinen Arm jetzt losgelassen und hörte ihm zu, die Hände im Rücken verschränkt.
    »Hier«, fuhr Danglard fort und ließ seinen Finger über das Plakat wandern, »sieht man ihn umgeben von seinem Hofstaat und seinen Dämonen. Hier sind Neptuns Wohltaten dargestellt und hier seine Macht zu strafen, veranschaulicht durch seinen Dreizack und die unheilbringende Schlange, die in die Untiefen lockt. Es ist eine sehr akademische Darstellung, der Stil ist unausgereift und sentimental. Den Namen des Malers kann ich nicht erkennen. Vermutlich irgendein Unbekannter, der für die bürgerlichen Salons der Zeit tätig war, und wahrscheinlich …«
    »Neptun«, unterbrach ihn Adamsberg nachdenklich.
    »Gut, Danglard, tausend Dank. Gehen Sie jetzt nach Hause, schlafen Sie. Und verzeihen Sie, daß ich Sie geweckt habe.«
    Bevor Danglard noch eine Erklärung verlangen konnte, hatte Adamsberg schon ein Taxi angehalten und seinen Stellvertreter hineingeschoben. Durch die Scheibe sah Danglard, wie der Kommissar langsam davonging, eine schmale schwarze Silhouette, leicht gebeugt und ein wenig schwankend in der Nacht. Er lächelte, strich sich unwillkürlich über den Kopf und traf auf die abgeschnittene Bommel seiner Mütze. Von einer plötzlichen Unruhe erfaßt, berührte er diesen Bommelknirps dreimal, auf daß er ihm Glück bringen möge.

5
    Als Adamsberg zu Hause war, überflog er seine zusammengewürfelte Bibliothek auf der Suche nach irgendeinem Buch, das ihm über Neptun-Poseidon Auskunft geben konnte. Er fand ein altes Geschichtslehrbuch, in dem ihm auf Seite siebenundsechzig der Gott des Meeres in seiner ganzen Herrlichkeit erschien, in der Hand seine göttliche Waffe. Er betrachtete es einen Moment und las die kurze Erläuterung unter dem Basrelief, dann, das Buch noch in der Hand, warf er sich angezogen aufs Bett, von Müdigkeit und Kummer wie ausgelaugt.
    Das Gekreisch einer Katze, die auf den Dächern raufte, weckte ihn gegen vier Uhr früh. Er öffnete die Augen in der Dunkelheit, starrte auf das etwas hellere Viereck des Fensters gegenüber dem Bett. Seine am Fensterknauf aufgehängte Jacke bildete eine große, unbewegliche Gestalt, wie ein ungebetener Gast, der in seinem Zimmer erschienen war und ihm beim Schlafen zusah. Da war er, der Eindringling, der sich in seine Höhle geschlichen hatte und ihn nicht mehr losließ. Adamsberg schloß kurz die Augen und öffnete sie wieder. Neptun mit seinem Dreizack.
    Diesmal begannen seine Arme zu zittern, diesmal raste sein Herz. Kein Vergleich mit den vier Stürmen, die über ihn hinweggegangen waren, wohl aber
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