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Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Titel: Der verborgene Hof: Roman (German Edition)
Autoren: Jay Lake
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ähnlich den Buchstaben.
    »Könnten die Götter nicht in den Buchstaben sein?«
    Federo öffnete den Mund, schloss ihn und öffnete ihn erneut, ohne zu sprechen. Er setzte sich schwer auf seine Bettstatt. »Dein Verstand ist ein Schatz, Kind.« Er seufzte. »Hüte ihn gut. Andere werden neidisch auf den Flug deiner Gedanken sein. Höre auf mich …« Er deutete warnend mit seinem Finger. »Spiele lieber ein wenig den Dummkopf, und du wirst mehr Frieden haben.«
    Ich ließ mich nicht ablenken. »Und was sind Götter?«
    »Götter sind …« Er hielt inne und dachte nach. Ich wusste bereits, dass Federo seine Worte für mich sehr sorgfältig wählte. Ich lernte, was in der Dunkelheit hinter dem Licht der Worte lag. »Götter sind real. Realer an einigen Orten als an anderen. In Copper Downs haben wir … Unsere Götter wurden vor langer Zeit aus unserem Leben entfernt.«
    »Sind sie tot?«
    »Nein. Aber sie leben auch nicht.«
    »Wie ein Baum«, stellte ich fest. »Er wurde umgeschnitten, um ein Schiff zu bauen. Er bewegt sich so, als wäre er am Leben. Er liegt nicht tot auf dem Boden.«
    Er lachte. »Außer, dass wir in Copper Downs unsere Götter kaum brauchen. Der Herzog hat andere Wege gefunden, sein Volk zu beschäftigen.« Er lehnte sich vor und versuchte besonders finster zu blicken. »Aber ich warte noch immer auf die Buchstaben, junge Dame.«
    Ich konnte nicht entkommen. Wo sollte ich hin? Es gab nur das Schiff. Gleichzeitig war mir klar, dass rebellisches Schweigen nichts bringen würde, außer meinem Entführer etwas zu beweisen, was er längst gut genug verstand. Als die Tage vergingen, sah ich immer weniger eine Made in ihm und immer mehr einen Mann. Er sprach, ich hörte zu. Ich fragte, er antwortete.
    Mit jedem Tag nahm ich mehr von seiner Sprache auf. Und nun, da ich schon ganz gut Petraeanisch verstand, ignorierte mich Federo, wenn ich in meiner eigenen Sprache redete. Seine war eine Sprache von Ideen, von Gedanken, die größer waren als ein Stall oder ein Reisfeld oder ein Graben mit Fröschen. Ich fühlte mich schuldig, weil mir manches an meiner Gefangenschaft auch gefiel.
    Aber es war nicht zu verleugnen, dass ich jetzt besseres Essen hatte als je zuvor. Ich schlief auf Bettlaken, das gab es zu Hause nirgendwo. Ich trug einfache Kleider, die mich von den Schultern bis zu den Knien bedeckten. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich mehr am Körper als nur Sonnenschein. Ich besaß Seife. Welcher Gott auch immer dem Madenvolk diese Wohltat gewährte, hatte sie wahrhaftig gesegnet. Ich hatte mir nie vorgestellt, wie es sein mochte, vollkommen sauber zu sein. Zu Hause wurden wir nur bei der Geburt und nach dem Tod gründlich gewaschen. Den Rest unseres Lebens verbrachten wir im Staub der Welt.
    Wenn Federo nicht gerade mit Rechnen und Schreiben beschäftigt war oder mich unterrichtete, las er mir vor. Nicht aus den einfachen Büchern für Kinder, sondern aus seiner persönlichen Sammlung von Texten über Handel, Geografie, Technik der Dampfkraft, Metallbearbeitung. Das meiste verstand ich kaum, aber ich lernte dabei immer neue Worte und hatte Fragen über Fragen, die er beantwortete, so gut er es vermochte.
    Am liebsten hatte ich Landkarten. Anfangs fiel es mir schwer, meinem Verstand klarzumachen, dass eine Zeichnung auf einem Stück Pergament dasselbe sein sollte wie das Land und das Meer um mich herum. Aber als ich es zu verstehen begann, erkannte ich, dass ich überallhin reisen konnte, ohne auch nur von meinem Sitz aufstehen zu müssen.
    Federo zeigte mir ferne Orte. Den Kanal, der unser Sturmmeer mit dem Sonnenmeer verband und unter dem allsehenden Auge des Safranturms im fernen Osten verlief. Die majestätischen Raueisberge im Norden. Die Größe von Reichen, die es schon so lange nicht mehr gab, dass von ihren Städten nur noch Ruinen übrig waren. Die gesamte Platte der Welt konnte mit jedem Berg und Strom aufgezeichnet werden. Wir sahen uns alles an, was er mir zeigte, außer meinem alten und meinem neuen Zuhause.
    »Warum zeigst du mir nicht Copper Downs?«
    Federo erstarrte sichtlich. »Das darf ich nicht.«
    »Wer sagt das? Warum darf ich keine Bilder von meinem Zuhause sehen?«
    »Es gibt Dinge, die man dir zeigen wird, wenn man es für richtig hält.«
    »Du hast gesagt, dass du mich nach Copper Downs bringst, aber du hast nie gesagt, warum.« Ich fühlte einen Schmerz in meiner Brust bei der Erinnerung an Ausdauers sanften Blick. Es würden keine Glocken für mich in Copper Downs
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