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Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Titel: Der verborgene Hof: Roman (German Edition)
Autoren: Jay Lake
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dreifacher Bogen spitzer Zähne ragte über meinem Kopf. Dieses Ungeheuer des Meeres war der fleischgewordene Hunger. Ich konnte die bleiche Wölbung seines Rachens hinter den Zähnen sehen und die große schwarze Kehle, die mich in einem Stück verschlingen konnte. Ein kalter Gestank nach Blut und Unrat jagte einen Schauder meinen Rücken hinab.
    Der Pfeil flog in diese bleiche Höhle und drang tief in den Gaumen des Ungeheuers. Ein blauer Funke barst in dieser Dunkelheit, so grell, dass es mich in den Augen schmerzte. Ich vernahm einen spitzen Schrei wie von einer Frau in Pein.
    Mit einem gewaltigen Platschen schloss sich der Schlund und sank unter Wasser und mit ihm ein Schädel, der größer als der von Ausdauer war. Einen unendlichen Augenblick zwischen einem Herzschlag und dem nächsten starrte mich ein schwarzes Auge an. Es steckte in einem Wulst aus Fleisch, so bleich wie die Haut des Madenmannes, und war getrübt vom Schleier des Todes. Obgleich diesem starrenden Augapfel die Weisheit von Ausdauers braunen Augen fehlte, obgleich kein lebender Funke in ihm blitzte, wie er selbst im Auge des kleinsten Vogels zu sehen ist, spürte ich dennoch den blinden Hass im kalten Herzen der Meerbestie.
    Ich begann, Wasser zu treten. In mir war alles gefroren, aber nicht von den eisigen Wogen, in denen ich trieb. Das Ungeheuer hätte mich fast geholt. Dazu kam, dass ich nirgendwo Land sah, zu dem ich schwimmen konnte. Das Boot knarrte und ächzte hinter mir. Männer riefen, als es umkehrte, um mich aus den Wellen zu fischen.
    Im Wasser zu Hause hatte es nur Schlangen, Frösche und Schildkröten mit messerscharfen Schnäbeln gegeben. Das Meer hielt alle Arten von Schlünden bereit, die mich mit Haut und Haaren verschlingen konnten. Als Stricke heruntergelassen wurden, griff ich hastig zu, dankbar für die Rettung.
    Die Tränen, die ich für mein verlorenes Zuhause vergoss, vermischten sich mit der salzigen Gischt, als man mich an Bord zog. Wieder ging ich freiwillig in meine Gefangenschaft zurück. Sollte das ein drittes Mal geschehen, würde es bedeuten, dass ich mich endgültig und für alle Zeiten aufgab. Das wusste ich.
    Federo gab mir die Schiefertafel zurück. »Schreib die Buchstaben noch einmal, Mädchen«, sagte er. In Petraeanisch.
    Trotz meiner Entschlossenheit saugte ich seine Sprache auf, wie ein Stoff Farbe aufsaugt. Viele der Arbeiter an Deck sprachen sie, ebenso wie alle Offiziere. Federo benutzte nur sie, wenn er mit mir redete. Er hatte keinen Namen für mich, er nannte mich nur Mädchen, womit er im Grunde die halbe Welt meinen mochte.
    »Ich habe sie hundert Mal geschrieben«, sagte ich laut und murmelte »Schlange« in meiner Sprache.
    Er schlug mich hart auf den Kopf. Es tat einen Moment weh, mehr nicht. Ich schrie nicht auf. Ich schrie nie auf, nicht, wenn mich Federo oder die Seeleute hören konnten, was überall auf dem Schiff der Fall war.
    »Dann wirst du sie noch hundert Mal schreiben.« Er beugte sich herab. »Ohne Buchstaben bist du nichts in der Welt, in die wir jetzt gehen. Leben und Tod der Menschen wird auf Papier festgehalten und den Mächtigen vorgelegt wie Tanzkarten.«
    Diese Worte. Zu Hause bei meinem Vater musste ich nicht schreiben lernen. Buchstaben waren etwas völlig Fremdes für mich. Man redete und die Leute hörten zu, oder auch nicht.
    Buchstaben bedeuteten eine Art zu sprechen, bei der einen jeder zu jeder Zeit hören konnte, als ob man etwas endlos wiederholte, ohne dass man es in alle Ewigkeit je wieder selbst sagen musste. Ihre Formen waren völlig ungewohnt und wiesen keinerlei Ähnlichkeit mit ihrem Klang auf – geknickte Bäume, torkelnde Säufer und Hühnerspuren. »Wer hat sich so etwas ausgedacht?«
    Er versetzte mir erneut einen Klaps. »In meiner Sprache.«
    Ich ballte die Faust um die Kreide und versuchte es erneut in seinen Worten. »Wer hat sich so etwas ausgedacht?«
    »Ich weiß keinen Namen, Mädchen. Ich weiß es nicht. Ich denke, die Götter, die den Menschen das Feuer brachten, gaben ihnen auch die Buchstaben.« Er lächelte schief. »Manche würden wohl sagen, sie waren ein und dasselbe Geschenk.«
    Wir hatten zu Hause keine Götter, nicht in dem Sinne. Nur tote Menschen, die über uns wachten, und die Tulpas, die im Staub und in den Wolken gegenwärtig waren und ihre Gesichter im kräuselnden Wasser verbargen.
    Wenn ich einen Gott gehabt hatte, dann war das Ausdauer. Aber er war so lebendig wie ich, während Götter eher eine Idee waren. Im Grunde
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