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Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Titel: Der verborgene Hof: Roman (German Edition)
Autoren: Jay Lake
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und die Berührungen pummeliger Händchen einzufangen. Ich glaube, sie hatte keinen einzigen Zahn mehr. Ihre vom Betelkauen fleckigen Lippen waren gerunzelt und eingefallen, und dieser Anblick war mir in meiner Erinnerung so vertraut wie der Geschmack von Wasser. Ihre Nase war lang, anders als die der meisten Menschen in Selistan, und kündete selbst in ihrem Alter noch von einer inneren Stärke. Außer ein paar Strähnen hatte sie kein Haar mehr. Da ihre Kopfhaut weitgehend unter ihrer Glöckchenseide verborgen war, nehme ich an, dass dieses Wissen nur die Erinnerung einer Erinnerung ist.
    Aber jemand musste sie gewaschen und gekleidet und rot und weiß bemalt haben. Dies weiß ich aus späteren Erfahrungen, die ich bei den Körpern machte, die ich selbst für das nächste Leben vorbereitete – ebenso wie im Falle der Leichen derer, die ich mit eigenen Händen getötet habe.
    Hatte mein Vater selbst ihren kalt werdenden Körper vorbereitet?
    Oder hatte meine Mutter dieses letzte Ritual für ihn ausgeführt?
    Waren meine Mutter und meine Großmutter gut miteinander ausgekommen, oder hatten sie in Gegenwart meines Vaters gezankt?
    So viel ist mir genommen worden. Was mir dafür gegeben wurde, verblasst vor der Klarheit dieses einen Augenblicks: vor der Deutlichkeit der Farben, mit denen das Gesicht meiner Großmutter bemalt war und dem fernen Echo der Glocke des Ochsen sowie dem silberhellen Klingeln an der Seide meiner Großmutter. Es verblasst vor den ausgeblichenen Quasten an Ausdauers großen gebogenen Hörnern und dem Licht der grellen Hitze, die das Atmen schwer machte, und dem Gestank nach Staub und Fäulnis an jenem Tag, als mein Vater das Totenlied seiner Mutter mit einer tonlosen Stimme sang, die selbst in meinen Kinderohren verloren klang.
    Diese Klarheit gewinnt Substanz durch eine Reihe späterer Erfahrungen, aber sie steht auch allein für sich wie der vorderste Fels eines Riffs vor der zurückweichenden Flut. Wenn doch die Vergangenheit so offen für mich wäre, wie sie es für die blau gewandeten Männer ist, die auf den brüchigen Schädeln uralter Götzen im Hafenmarkt von Copper Downs sitzen. Für ein paar Messingtael begeben sie sich in ihre Häuser der Erinnerung, um von Festzügen und den Farben von Marschbannern längst vergangener Zeiten zu erzählen.
    Für viele Menschen sind alte Erinnerungen offene Korridore, durch die sie tief hineingehen können in die Labyrinthe des Bewusstseins. Mich quälen frischere Erinnerungen: solche an Blut und Zorn und Schweiß und ein gnadenloses Leben. Alles, was man mir in den frühesten Tagen meiner gestohlenen Kindheit nahm, diese fernen Erinnerungen, bleiben eine sichere, heile Welt, verglichen mit dem, was seither geschehen ist.
    Wenn mir die vollständige Erinnerung an jene Zeit wieder vergönnt wäre, brächte sie mir den Klang der Stimme meiner Mutter zurück, den ich vergessen habe. Sie brächte mir das Gesicht meines Vaters wieder, das ich vergessen habe. Sie brächte mir meinen Namen wieder, den ich vergessen habe.
    Das Bild von meiner Großmutter ist so hell und kraftvoll wie ein Sonnenaufgang über dem Meer. Sie steht am Beginn meines Lebens. Ihr Begräbnis kennzeichnet den Beginn meiner bewussten Wahrnehmung der Welt um mich herum. Doch dieses helle, strahlende Licht erlosch, bevor alles begann. Wer auch immer sie für mich in meinem normalen Leben gewesen sein mochte, liegt tief eingebettet in den undurchdringlichen Schleiern meiner Kindheit. Ich stelle mir gern vor, dass sie mich in den Armen hielt, während meine Mutter zusammen mit meinem Vater auf den Feldern gearbeitet hat. In meiner Fantasie singt sie mir Lieder über die Welt vor.
    Aber das sind nur Wunschgedanken.
    Außer den Bildern von meiner Großmutter am Ende ihres Lebens hat sich mir Ausdauer am tiefsten eingeprägt. Der Ochse schien in den Himmel zu ragen. Er roch nach feuchtem Fell und dem duftenden Süßgras in seinem Dung. Er war ein Sonnenschutz, der meinem Vater folgte und mir immer Schatten spendete. Ich spielte in seinem Schatten und folgte ihm mit der wandernden Sonne, wenn Ausdauer mal wieder lange reglos stand. Manchmal blickte ich hoch zu seinem Bauch auf die Linie, wo das Fell von beiden Seiten zusammenlief und eine Hautfalte herabhing. Sein weißes Rückenfell wurde dort dunkler, grau wie eine Sturmfront über den Hügeln, und war immer staubig und schlammig. Ein ständiges Rumoren drang aus dem Inneren des Ochsen, dumpfe Geräusche, die von Gras und Gas und Verdauung
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