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Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Titel: Der verborgene Hof: Roman (German Edition)
Autoren: Jay Lake
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kündeten und mich endlos faszinierten. Ausdauer pflegte zu grunzen, bevor er pisste, dann machte ich, dass ich außer Reichweite seiner großen Hufe kam, und jagte Frösche auf den gefluteten Feldern, bis er wieder eine trockene Stelle fand, auf der er stehen konnte. Seine großen braunen Augen beobachteten mich unverwandt, während ich durch die Reisfelder rannte, auf schwankende Palmen und verästelte Drillingsblumen kletterte oder in stinkenden Tümpeln Schlangen jagte.
    Ausdauer hatte die Geduld von Urgestein. Er wartete immer auf meine Rückkehr. Er schnaubte manchmal und schüttelte seinen mächtigen Kopf, wenn er meinte, dass ich mich beim Spielen zu weit entfernt hätte. Das Geräusch seiner hölzernen Glocke ließ mich immer zu ihm zurückfinden. Der Ochse ließ mich niemals aus den Augen, außer wenn mein Vater ihn für eine andere Aufgabe in die Felder oder auf die Dorfstraße mitgenommen hatte.
    Am Abend saß ich dann vor unserer Hütte am Feuer und nähte unter dem aufmerksamen Blick meines Vaters wieder ein Glöckchen an meine Seide. Meine Mutter war damals bereits nicht mehr bei uns. An das Ereignis ihres Todes vermag ich mich allerdings nicht zu erinnern. Ausdauers Atem drang aus dem Stall herüber. In der Dunkelheit des Eingangs konnte ich den Widerschein des Feuers in seinen braunen Augen sehen. Sie waren die Leuchtfeuer, die mich, wenn notwendig, aus dem Reich meiner Träume zurückholten.
    Dann kam ein bestimmter Tag im dritten Sommer meines Lebens, der wie die meisten Tage in dieser Gegend so heiß war, wie es nur in Selistan sein konnte. Ihr Nordländer versteht nicht, wie wir unter unserer größeren Sonne leben können. In den heißen Ländern des Südens ist das Tagesgestirn nicht nur Licht, sondern auch Feuer. Seine Glut fällt wie Regen durch eine Luft, die man mit einem Messer schneiden könnte. Diese Wärme spürte ich immer, wie eine Hand, die meinen Kopf niederdrückte. Sie tränkte mein Haar mit Schweiß und färbte meine Haut dunkel.
    Ich spielte gerade unter Bananenstauden. Ihre weinroten Blütenkaskaden ließen die süßen, wohlschmeckenden Früchte erahnen. Die dicken Strünke waren Freunde, Abkömmlinge einer grünen Dschungelrasse, die mir die Geheimnisse des Wetters offenbarten. Ich hatte mich entschlossen, Königin des Wassers zu sein, denn das Wasser beherrschte alles in unserem Dorf. Warmer Schlamm, festgebacken an meinen Füßen, kündete von meinem Streifzug durch die Tümpel, wo mein magisches Königreich auferstehen sollte.
    Ausdauers Glocke hallte über das Feld. Das Geklapper klang ungewohnt drängend. Ich stand auf und sah die flachgelegten Ohren des Ochsen. Sein Schwanz peitschte, als müsste er sich eines ganzen Schwarms Mücken erwehren. Mein Vater stand neben dem Ochsen und hielt ihn an der Schlinge des Strickes, der als Zaumzeug diente. Er sprach mit jemandem, der Kleider trug, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Er war vollkommen in dunkle Tücher gehüllt. Kein Fleck seiner Haut blieb unserer Sonne ausgesetzt, außer dem totenbleichen Oval seines Gesichtes. Ich trug an sechs von sieben Tagen keinerlei Kleidung, und mein Vater nur ein Stück Tuch um die Hüften. Es war mir nie in den Sinn gekommen, dass jemand so viel zu verbergen haben könnte.
    Mein Vater rief meinen Namen. Tausend Mal habe ich in meiner Erinnerung vergeblich versucht, seine Stimme zu hören. Ich weiß, dass es mein Name war, ich weiß, dass er ihn rief, aber das Wort und der Klang seiner Stimme bleiben mir verborgen.
    Könnt ihr euch vorstellen, wie es ist, seinen Namen zu verlieren? Nicht, ihn eines Gelübdes oder eines Tempelgeheimnisses wegen für eine Weile abzulegen, sondern ihn einfach nicht mehr zu wissen . Viele haben mir gesagt, dass dies einfach nicht möglich sei, dass niemand vergisst, wie er oder sie an der Brust der Mutter genannt wurde. Ich will euch bald erklären, wie es dazu kam, doch glaubt mir bis dahin, dass der Verlust für mich ebenso groß ist, wie er euch unglaublich erscheinen mag.
    Papa drehte sich zu mir und legte seine Hände trichterförmig an den Mund, um mich zu rufen. Ich weiß, dass mein Name in der Luft hing. Ich weiß, dass ich mit wehenden Haaren auf meinen Vater zulief. Es war das Ende meines Lebens, dem ich entgegenlief, und sein Anfang.
    Ich lief lachend, voll des Staubes und Schlamms unseres Landes; ein Kind des sonnenversengten Selistan. Mein Vater hielt den Ochsen fest, während dieser heftig seinen Schädel schüttelte und wütend
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