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Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Titel: Der verborgene Hof: Roman (German Edition)
Autoren: Jay Lake
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liefert den Inhalt des Gespräches, aber nicht die Bedeutung. Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, dann sehe ich sie in der Sprache meiner Sklavenzeit und nicht in meiner Muttersprache.
    So ist es auch mit der Erinnerung an mein erstes Schiff. Ich weiß, dass sein Name Schicksalsvogel war, denn Schicksal und Vogel, das waren die ersten petraeanischen Worte, die ich lernte. Vor Jahren habe ich einen Blick in die Schiffsbücher in Copper Downs geworfen, daher weiß ich auch, dass die Schicksalsvogel eine Dampfbarkentine mit eisernem Rumpf war. Gebaut hatte man sie an den Küsten des Sonnenmeeres, wo die Prinzen des tiefen Wassers über die erforderlichen Eisengießereien verfügen, um solche Dinge herzustellen. Dieses Wissen verschmilzt in meiner Erinnerung, deshalb weiß ich auch noch die Anordnung ihrer Masten und Segel und des Schornsteins, als sie vor der Küste vor Anker lag, auch wenn sie mir als nichts anderes denn fremdartige Bäume erschienen sein mussten, während die Geheimnisse des Dampfes wohl völlig unverständlich für mich gewesen waren.
    Der Rumpf der Schicksalsvogel ragt weiß und glänzend aus den Wogen meiner Erinnerung. Ein Schwarm Möwen kreist mit seelenlosen Rufen über ihrem Heck. Seeleute bewegen sich auf dem Deck, und Pfeifen schrillen Befehle, die alle Matrosen verstehen. Sie ist schlank und wunderschön. Aus ihrem Schornstein steigt heller Rauch auf. Sie ist ein Haus auf dem Wasser, ein Jagdvogel, der seine Beute zurück zum Herrensitz bringt.
    Für meine Kinderaugen war es wohl nur ein weißes Gebäude mit Bäumen auf dem Dach. Da ich jetzt seine Stärke und seinen Zweck kenne, vermag ich das Schiff, auf dem ich gefangen war, nicht mehr mit kindlichem Blick zu sehen.
    Wie wir vom Ufer auf das ferne Deck gelangten, liegt hinter Schleiern des Vergessens verborgen. Es muss mit einem Boot geschehen sein. Ob ein ortsansässiger Fährmann sich solcherart einen Tael verdiente, oder ob jemand vom Schiff kam, um die Passagiere abzuholen, vermag ich nicht zu sagen.
    Die Schicksalsvogel war vollgestopft mit Behältern und Ballen und Antriebswellen und allen möglichen Einrichtungen zur Navigation und Erfüllung ihrer sonstigen Aufgaben. Wir standen an der Reling und blickten auf das Land zurück. So viel Wasser lag zwischen uns und der Küste; ein Fluss, der viel breiter war als alle Gräben auf allen Feldern meines Vaters zusammengenommen. Ich versuchte mir vorzustellen, wie viele Reisfelder man mit diesem fernen Meer fluten konnte.
    Der Anblick der Wasserwüste war vollkommen fremdartig. Der Himmel schien direkt auf der Welt zu enden. Die Küste war ein wenig vertrauter. Die Häuser und Ställe erschienen so klein. Sie bestanden aus Lehmmauern wie Papas Hütte, außer dass hier die Menschen ihre Gebäude mit hellen Farben bemalten. Einige zeigten Abbildungen von Blumen, Blitzen, Eidechsen und Dingen, für die ich keine Worte besaß. Hinter der Stadt stieg das Land an, und ich konnte die Straße sehen, über die wir am Abend zuvor gekommen waren.
    »Du hast mich weit gebracht, um meine Kraft zu prüfen«, stellte ich fest.
    »Hmm.« Der Madenmann suchte keine Worte für eine Antwort.
    Ich war den weiten Weg zu Fuß gegangen. Ich konnte ihn wieder zurückgehen. Ich starrte auf das braune und graue Land über den bunten Häusern am Ufer des Meeres. Nach einer Weile zog er mich sanft an der Schulter. Ich wandte mich zu dem Durcheinander auf dem Schiff um. Der Madenmann und ich schritten auf ein kleines Haus mitten in dem Gewirr von Männern und Ausrüstung und Ladung zu.
    »Hier«, sagte er, als wir eintraten. »Hier bleiben wir.« Ein Schwall von petraeanischen Worten folgte.
    Als Erstes fiel mir auf, dass der Boden aus Holz, nicht aus Erde war. Der Raum war wirklich schön. Licht fiel durch ein rundes Glasfenster. Es gab zwei Betten, beide so groß, wie ich in meinem bisherigen Leben noch keine gesehen hatte. Ein Tisch mit einem Stuhl davor war am Boden befestigt. Von einer schwarzen Halterung an der Decke hing an einer Kette eine kleine Öllampe mit Glas und Deckel.
    Kein Käfig wartete auf mich in der Mitte des Raumes.
    Noch nie zuvor hatte ich so viel Platz für ungestörten Aufenthalt gesehen. Für uns allein, nicht wie in der Nacht zuvor, als wir die Unterkunft mit anderen teilten, sondern für einen Mann und seine Bedürfnisse. Für einen Mann und sein Mädchen.
    Das Eisengeländer am Fuß des Bettes fühlte sich fest und kalt an. Die Farbe war ein Flickwerk aus vielen Schichten von
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