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Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)

Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)

Titel: Der Düsterkrallenwald: Roman (German Edition)
Autoren: Stephan Russbült
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1. VIER SCHICKSALE
    Am Tag der Sommersonnenwende irgendwo in Graumark
    Milo Blaubeers hockte inmitten des Blättergewirrs der alten Esche in schwindelerregender Höhe auf einem Ast, von dem er sich sicher sein konnte, dass er sein Gewicht tragen würde. Mit einer Hand hielt er sich an einem dünnen kahlen Zweig fest, und mit der anderen versuchte er, die Blätter vor seinem Gesicht zu teilen, um einen Blick nach unten werfen zu können. Die dichte Baumkrone ließ nur eine spärliche Aussicht auf die Welt unter ihm zu, worüber er auch ganz froh war. Von Zeit zu Zeit tauchte sein Bruder Bonne als kleiner bunter Punkt zwischen all dem Grün fünfzig Fuß unter ihm auf.
    »Vergiss nicht, Halblinge kennen keine Angst!«, rief Bonne zu ihm hoch.
    »Halblinge stürzen sich auch nicht mit gebastelten Fledermausflügeln von Bäumen, um zu sehen, ob sie fliegen können. Jedenfalls keine, die bei Verstand sind«, murmelte Milo leise und versuchte den Heuwagen, den sie in der Nähe der Esche platziert hatten, auszumachen.
    »Nur für den Fall, dass Halblinge doch nicht fliegen können«, hatte sein Bruder gemeint und den Karren aus der Scheune des Bürgermeisters gezogen.
    Schräg über Milo saß ein Blattpfeifermännchen in den Ästen und trillerte sein fröhliches Lied. Aufmerksam drehte es den Kopf hin und her, um den Halbling zu beobachten. Es hatte anscheinend die Suche nach Käfern und Larven für einen Moment unterbrochen, um zu sehen, was sein übergroßer Kontrahent vorhatte. Mit brauner Hose und grüner Jacke war Milo in den Gefiederfarben des kleinen Singvogels unterwegs. Nun sollte sich gleich herausstellen, ob er eines Vogels würdig war.
    »Willst du wissen, was Meister Othman in deiner Situation tun würde?«, rief Bonne.
    Herunterklettern und dir für die Idee eine Tracht Prügel verpassen , wurde Milo erschreckend bewusst.
    Die Witzelei über den alten Magier war zu einer neuen Passion für Bonne geworden, und Milo musste zugeben, dass sie einen gewissen Unterhaltungswert besaß. Nur der Moment war für einen solchen Scherz nicht sonderlich passend, befand er. Andererseits   – falls dies seine letzte Mutprobe sein sollte, konnte es nicht schaden, ihr mit einem Lächeln auf den Lippen entgegenzutreten.
    »Keine Ahnung, sag schon!«, brüllte er hinunter.
    »Meister Othman fällt nirgends herunter, er schwebt höchstens, und seine unermessliche Macht zieht dabei die Welt zu sich heran.«
    Milo fand es immer wieder erstaunlich, wie sehr seinen Bruder die eigenen Witze belustigten. Aber genau dieses bisschen Frohsinn war es, dass ihn nun dazu veranlasste, die Arme auszubreiten, das dünne Ziegenleder, das sich von den Handgelenken über die Achseln bis hinunter zur Hüfte in einem Dreieck spannte, als bedenkenlos flugtauglich anzusehen und vom Ast zu springen. Milo stürzte wie ein Stein in die Tiefe und auf den kleinen Heuwagen unter sich zu.
    Oda, Nelf und Tislo Kesselstolz waren schon zu weit gekommen, um jetzt wieder kehrtzumachen. Die drei Halblinge hatten sich vorbei an etlichen Wachen, einem Trupp Zwerge, der unerwartet einem der Aufzüge entsprungen war, und an der Unterkunft des Stollenmeisters geschlichen. So kurz vor dem Ziel gaben Halblinge nicht auf. Der Reichtum, den Nelf ihnen versprochen hatte, war zum Greifen nah. Das süße unbeschwerte Leben lachte ihnen regelrecht ins Gesicht   – momentan allerdings noch als zwergische Steinmetzarbeit in Form einer Tür.
    »Bist du dir sicher, dass sie dahinter ihre Edelsteinfunde aus dem Stollen lagern?«, fragte Tislo verunsichert.
    »Entweder das, oder die gesamten Biervorräte des Landes sind hinter dieser Tür. Was denkst du, warum sie so aussieht, wie sie aussieht? Drei Tonnen pures Gestein und die eigenhändige Arbeit des Zwergenmeisters von mindestens einem Jahr werden sicher nicht als Tür zum Abort dienen.«
    »Wer weiß«, gab Oda zu bedenken und hielt sich die Nase schon einmal sicherheitshalber zu, »vielleicht gerade deshalb.«
    Nelf tastete, kein bisschen verunsichert durch den Einwand seiner Schwester, weiter die Tür ab, während Tislo ihm mit der Fackel leuchtete. Zoll um Zoll tastete er jede erdenkliche Erhöhung und Vertiefung ab. Die von der Vorderseite fast poliert wirkende Oberfläche zeigte einige eingelassene zwergische Runen sowie die aufgesetzte Darstellung eines Breitschwertes.«
    »Das verdammte Ding sieht aus, wie aus einem einzigen riesigen Block gehauen«, stöhnte Nelf. »Aber das ist unmöglich. Irgendwie müssen sie die
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